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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, viertes Capitel.
zen zuweilen für die Stimme der Natur zu halten; zu-
mal da eine würkliche oder eingebildete besondere Aehn-
lichkeit unserer Gesichts-Züge diesen Wahn zu rechtferti-
gen schien. Da wir uns aber die Betrüglichkeit dieser
vermeynten Sprache des Blutes nicht immer verbergen
konnten, so fanden wir desto mehr Vergnügen darinn, die
Vorstellungen von einer natürlichen Verschwisterung der
Seelen, einem sympathetischen Zug der einen zu der an-
dern, einer schon in einem vorhergehenden Zustand in
bessern Welten angefangenen Bekanntschaft nachzuhän-
gen, und sie in tausend angenehme Träume auszubilden.
Aber auch bey diesem Grade ließ uns der phantastische
Schwung, den die Liebe unsern Seelen gegeben hatte,
nicht stille stehen. Wir strengten das äusserste Vermögen
unserer Einbildungs-Kraft an, um uns einen Begrif
von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den
überirdischen Sphären die Geister einander liebten.
Keine andere schien uns zu gleicher Zeit der Stärke
und der Reinigkeit unserer Empfindungen genug zu
thun, noch für Wesen sich zu schiken, die im Himmel
entsprungen, und dahin wiederzukehren bestimmt wä-
ren. Jch gestehe dir, schöne Danae, daß ich bey der
Erinnerung an diese glükselige Schwärmerey meiner er-
sten Jugend mich kaum erwehren kan zu wünschen, daß
die Bezauberung ewig hätte dauern können. Und deu-
noch ist nichts gewissers, als daß sich diese allzugeistige
Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche
ihre Rechte nie verliert, uns zulezt unvermerkt auf eine
gewöhnlichere Art zu lieben geführt haben würde; wenn

uns

Siebentes Buch, viertes Capitel.
zen zuweilen fuͤr die Stimme der Natur zu halten; zu-
mal da eine wuͤrkliche oder eingebildete beſondere Aehn-
lichkeit unſerer Geſichts-Zuͤge dieſen Wahn zu rechtferti-
gen ſchien. Da wir uns aber die Betruͤglichkeit dieſer
vermeynten Sprache des Blutes nicht immer verbergen
konnten, ſo fanden wir deſto mehr Vergnuͤgen darinn, die
Vorſtellungen von einer natuͤrlichen Verſchwiſterung der
Seelen, einem ſympathetiſchen Zug der einen zu der an-
dern, einer ſchon in einem vorhergehenden Zuſtand in
beſſern Welten angefangenen Bekanntſchaft nachzuhaͤn-
gen, und ſie in tauſend angenehme Traͤume auszubilden.
Aber auch bey dieſem Grade ließ uns der phantaſtiſche
Schwung, den die Liebe unſern Seelen gegeben hatte,
nicht ſtille ſtehen. Wir ſtrengten das aͤuſſerſte Vermoͤgen
unſerer Einbildungs-Kraft an, um uns einen Begrif
von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den
uͤberirdiſchen Sphaͤren die Geiſter einander liebten.
Keine andere ſchien uns zu gleicher Zeit der Staͤrke
und der Reinigkeit unſerer Empfindungen genug zu
thun, noch fuͤr Weſen ſich zu ſchiken, die im Himmel
entſprungen, und dahin wiederzukehren beſtimmt waͤ-
ren. Jch geſtehe dir, ſchoͤne Danae, daß ich bey der
Erinnerung an dieſe gluͤkſelige Schwaͤrmerey meiner er-
ſten Jugend mich kaum erwehren kan zu wuͤnſchen, daß
die Bezauberung ewig haͤtte dauern koͤnnen. Und deu-
noch iſt nichts gewiſſers, als daß ſich dieſe allzugeiſtige
Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche
ihre Rechte nie verliert, uns zulezt unvermerkt auf eine
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[303/0325] Siebentes Buch, viertes Capitel. zen zuweilen fuͤr die Stimme der Natur zu halten; zu- mal da eine wuͤrkliche oder eingebildete beſondere Aehn- lichkeit unſerer Geſichts-Zuͤge dieſen Wahn zu rechtferti- gen ſchien. Da wir uns aber die Betruͤglichkeit dieſer vermeynten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, ſo fanden wir deſto mehr Vergnuͤgen darinn, die Vorſtellungen von einer natuͤrlichen Verſchwiſterung der Seelen, einem ſympathetiſchen Zug der einen zu der an- dern, einer ſchon in einem vorhergehenden Zuſtand in beſſern Welten angefangenen Bekanntſchaft nachzuhaͤn- gen, und ſie in tauſend angenehme Traͤume auszubilden. Aber auch bey dieſem Grade ließ uns der phantaſtiſche Schwung, den die Liebe unſern Seelen gegeben hatte, nicht ſtille ſtehen. Wir ſtrengten das aͤuſſerſte Vermoͤgen unſerer Einbildungs-Kraft an, um uns einen Begrif von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den uͤberirdiſchen Sphaͤren die Geiſter einander liebten. Keine andere ſchien uns zu gleicher Zeit der Staͤrke und der Reinigkeit unſerer Empfindungen genug zu thun, noch fuͤr Weſen ſich zu ſchiken, die im Himmel entſprungen, und dahin wiederzukehren beſtimmt waͤ- ren. Jch geſtehe dir, ſchoͤne Danae, daß ich bey der Erinnerung an dieſe gluͤkſelige Schwaͤrmerey meiner er- ſten Jugend mich kaum erwehren kan zu wuͤnſchen, daß die Bezauberung ewig haͤtte dauern koͤnnen. Und deu- noch iſt nichts gewiſſers, als daß ſich dieſe allzugeiſtige Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche ihre Rechte nie verliert, uns zulezt unvermerkt auf eine gewoͤhnlichere Art zu lieben gefuͤhrt haben wuͤrde; wenn uns

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/325>, abgerufen am 24.11.2024.