Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
ren glaube; so lieblich, so rührend schien sie unmittel-
bar in meine Seele sich einzuschmeicheln. Jn der süs-
sen Verwirrung, worinn ich war, fand ich keine bes-
sere Antwort, als sie zu versichern, daß ich nicht so
verwegen gewesen wäre, ihre Einsamkeit zu stören,
wenn ich vermuthet hätte, sie hier zu finden. Das
Compliment war nicht so artig, als es ein junger
Athenienser bey einer solchen Gelegenheit gemacht hätte;
aber Psyche (so erfuhr ich in der Folge, daß meine
Unbekannte genennt werde) war zu unschuldig, um
Complimente zu erwarten. Jch erkenne meine Unvor-
sichtigkeit, wiewol zu spät, versezte sie: Was wird Aga-
thon von mir denken, da er mich an diesem abgelege-
nen Ort in einer solchen Stunde allein findet? Und
doch (sezte sie erröthend hinzu) ist es glüklich für mich,
wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbesonnenheit haben
mußte, daß es Agathon war. Jch versicherte sie, daß
mir nichts natürlicher vorkomme, als der Geschmak,
den sie in der Einsamkeit, in der Stille einer so schö-
nen Nacht, und in einer so anmuthigen Gegend zu fin-
den scheine. Jch sezte noch vieles von den Annehmlich-
keiten des Mondscheins, von der majestätischen Pracht
des sternvollen Himmels, von der Begeistrung, welche
die Seele in diesem feyerlichen Schweigen der ganzen
Natur erfahre, von dem Einschlummern der Sinne,
und dem Erwachen der innern geheimnißvollen Kräfte
unsers unsterblichen Theils, hinzu -- Dinge, welche
bey den meisten Schönen, zumal in einem so anmu-
thigen Myrthen-Gebüsche, und in der einladenden Däm-

merung

Agathon.
ren glaube; ſo lieblich, ſo ruͤhrend ſchien ſie unmittel-
bar in meine Seele ſich einzuſchmeicheln. Jn der ſuͤſ-
ſen Verwirrung, worinn ich war, fand ich keine beſ-
ſere Antwort, als ſie zu verſichern, daß ich nicht ſo
verwegen geweſen waͤre, ihre Einſamkeit zu ſtoͤren,
wenn ich vermuthet haͤtte, ſie hier zu finden. Das
Compliment war nicht ſo artig, als es ein junger
Athenienſer bey einer ſolchen Gelegenheit gemacht haͤtte;
aber Pſyche (ſo erfuhr ich in der Folge, daß meine
Unbekannte genennt werde) war zu unſchuldig, um
Complimente zu erwarten. Jch erkenne meine Unvor-
ſichtigkeit, wiewol zu ſpaͤt, verſezte ſie: Was wird Aga-
thon von mir denken, da er mich an dieſem abgelege-
nen Ort in einer ſolchen Stunde allein findet? Und
doch (ſezte ſie erroͤthend hinzu) iſt es gluͤklich fuͤr mich,
wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbeſonnenheit haben
mußte, daß es Agathon war. Jch verſicherte ſie, daß
mir nichts natuͤrlicher vorkomme, als der Geſchmak,
den ſie in der Einſamkeit, in der Stille einer ſo ſchoͤ-
nen Nacht, und in einer ſo anmuthigen Gegend zu fin-
den ſcheine. Jch ſezte noch vieles von den Annehmlich-
keiten des Mondſcheins, von der majeſtaͤtiſchen Pracht
des ſternvollen Himmels, von der Begeiſtrung, welche
die Seele in dieſem feyerlichen Schweigen der ganzen
Natur erfahre, von dem Einſchlummern der Sinne,
und dem Erwachen der innern geheimnißvollen Kraͤfte
unſers unſterblichen Theils, hinzu — Dinge, welche
bey den meiſten Schoͤnen, zumal in einem ſo anmu-
thigen Myrthen-Gebuͤſche, und in der einladenden Daͤm-

merung
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0320" n="298"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
ren glaube; &#x017F;o lieblich, &#x017F;o ru&#x0364;hrend &#x017F;chien &#x017F;ie unmittel-<lb/>
bar in meine Seele &#x017F;ich einzu&#x017F;chmeicheln. Jn der &#x017F;u&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Verwirrung, worinn ich war, fand ich keine be&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ere Antwort, als &#x017F;ie zu ver&#x017F;ichern, daß ich nicht &#x017F;o<lb/>
verwegen gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, ihre Ein&#x017F;amkeit zu &#x017F;to&#x0364;ren,<lb/>
wenn ich vermuthet ha&#x0364;tte, &#x017F;ie hier zu finden. Das<lb/>
Compliment war nicht &#x017F;o artig, als es ein junger<lb/>
Athenien&#x017F;er bey einer &#x017F;olchen Gelegenheit gemacht ha&#x0364;tte;<lb/>
aber P&#x017F;yche (&#x017F;o erfuhr ich in der Folge, daß meine<lb/>
Unbekannte genennt werde) war zu un&#x017F;chuldig, um<lb/>
Complimente zu erwarten. Jch erkenne meine Unvor-<lb/>
&#x017F;ichtigkeit, wiewol zu &#x017F;pa&#x0364;t, ver&#x017F;ezte &#x017F;ie: Was wird Aga-<lb/>
thon von mir denken, da er mich an die&#x017F;em abgelege-<lb/>
nen Ort in einer &#x017F;olchen Stunde allein findet? Und<lb/>
doch (&#x017F;ezte &#x017F;ie erro&#x0364;thend hinzu) i&#x017F;t es glu&#x0364;klich fu&#x0364;r mich,<lb/>
wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbe&#x017F;onnenheit haben<lb/>
mußte, daß es Agathon war. Jch ver&#x017F;icherte &#x017F;ie, daß<lb/>
mir nichts natu&#x0364;rlicher vorkomme, als der Ge&#x017F;chmak,<lb/>
den &#x017F;ie in der Ein&#x017F;amkeit, in der Stille einer &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
nen Nacht, und in einer &#x017F;o anmuthigen Gegend zu fin-<lb/>
den &#x017F;cheine. Jch &#x017F;ezte noch vieles von den Annehmlich-<lb/>
keiten des Mond&#x017F;cheins, von der maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;chen Pracht<lb/>
des &#x017F;ternvollen Himmels, von der Begei&#x017F;trung, welche<lb/>
die Seele in die&#x017F;em feyerlichen Schweigen der ganzen<lb/>
Natur erfahre, von dem Ein&#x017F;chlummern der Sinne,<lb/>
und dem Erwachen der innern geheimnißvollen Kra&#x0364;fte<lb/>
un&#x017F;ers un&#x017F;terblichen Theils, hinzu &#x2014; Dinge, welche<lb/>
bey den mei&#x017F;ten Scho&#x0364;nen, zumal in einem &#x017F;o anmu-<lb/>
thigen Myrthen-Gebu&#x0364;&#x017F;che, und in der einladenden Da&#x0364;m-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">merung</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0320] Agathon. ren glaube; ſo lieblich, ſo ruͤhrend ſchien ſie unmittel- bar in meine Seele ſich einzuſchmeicheln. Jn der ſuͤſ- ſen Verwirrung, worinn ich war, fand ich keine beſ- ſere Antwort, als ſie zu verſichern, daß ich nicht ſo verwegen geweſen waͤre, ihre Einſamkeit zu ſtoͤren, wenn ich vermuthet haͤtte, ſie hier zu finden. Das Compliment war nicht ſo artig, als es ein junger Athenienſer bey einer ſolchen Gelegenheit gemacht haͤtte; aber Pſyche (ſo erfuhr ich in der Folge, daß meine Unbekannte genennt werde) war zu unſchuldig, um Complimente zu erwarten. Jch erkenne meine Unvor- ſichtigkeit, wiewol zu ſpaͤt, verſezte ſie: Was wird Aga- thon von mir denken, da er mich an dieſem abgelege- nen Ort in einer ſolchen Stunde allein findet? Und doch (ſezte ſie erroͤthend hinzu) iſt es gluͤklich fuͤr mich, wenn ich ja einen Zeugen meiner Unbeſonnenheit haben mußte, daß es Agathon war. Jch verſicherte ſie, daß mir nichts natuͤrlicher vorkomme, als der Geſchmak, den ſie in der Einſamkeit, in der Stille einer ſo ſchoͤ- nen Nacht, und in einer ſo anmuthigen Gegend zu fin- den ſcheine. Jch ſezte noch vieles von den Annehmlich- keiten des Mondſcheins, von der majeſtaͤtiſchen Pracht des ſternvollen Himmels, von der Begeiſtrung, welche die Seele in dieſem feyerlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einſchlummern der Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnißvollen Kraͤfte unſers unſterblichen Theils, hinzu — Dinge, welche bey den meiſten Schoͤnen, zumal in einem ſo anmu- thigen Myrthen-Gebuͤſche, und in der einladenden Daͤm- merung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/320
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/320>, abgerufen am 02.10.2024.