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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, viertes Capitel.
daß sie mich gewahr wurde. Dieser Umstand erlaubte
mir meine eigene Stelle zu verändern, und eine solche
zu nehmen, daß sie, so bald sie die Augen aufschlüge,
mich unfehlbar erkennen müßte. Diese Vorsicht hatte
die verlangte Würkung. Sie erblikte mich; sie stuzte;
aber sie erkannte mich doch zu schnell, um mich für ei-
nen Satyren anzusehen. Meine Erscheinung schien ihr
mehr Vergnügen als Unruhe zu machen. Ein jeder an-
drer, so gar ein Satyr, würde irgend ein artig ge-
drehtes Compliment in Bereitschaft gehabt haben, um
seine Freude über eine so reizende Erscheinung auszu-
drüken; die Gelegenheit konnte nicht schöner seyn, sie
für eine Göttin, oder wenigstens für eine der Gespielen
Dianens anzusehen, und diesem Jrrthum gemäß zu be-
grüssen. Aber ich, von neuen, nie gefühlten, unbe-
schreiblichen Empfindungen gedrükt, ich konnte gar
nichts sagen. Zu ihren Füssen hätte ich mich werfen
mögen; aber die Schüchternheit, welche (zumal in
meinem damaligen Alter) mit der ersten Liebe so un-
zertrennlich verbunden ist, hielt mich zurük; ich be-
sorgte, daß sie sich einen nachtheiligen Begrif von der
tiefen Ehrerbietung, die ich für sie empfand, aus einer
solchen Freyheit machen möchte. Meine Unbekannte
war nicht so schüchtern; sie hub sich, mit dieser sittsa-
men Anmuth, wodurch sie sich das erste mal, als ich
sie gesehen, in meinen Augen von allen ihren Gespie-
len unterschieden hatte, vom Boden auf, und gieng ein
paar Schritte gegen mich. Wie finde ich den Agathon
hier? sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu hö-

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Siebentes Buch, viertes Capitel.
daß ſie mich gewahr wurde. Dieſer Umſtand erlaubte
mir meine eigene Stelle zu veraͤndern, und eine ſolche
zu nehmen, daß ſie, ſo bald ſie die Augen aufſchluͤge,
mich unfehlbar erkennen muͤßte. Dieſe Vorſicht hatte
die verlangte Wuͤrkung. Sie erblikte mich; ſie ſtuzte;
aber ſie erkannte mich doch zu ſchnell, um mich fuͤr ei-
nen Satyren anzuſehen. Meine Erſcheinung ſchien ihr
mehr Vergnuͤgen als Unruhe zu machen. Ein jeder an-
drer, ſo gar ein Satyr, wuͤrde irgend ein artig ge-
drehtes Compliment in Bereitſchaft gehabt haben, um
ſeine Freude uͤber eine ſo reizende Erſcheinung auszu-
druͤken; die Gelegenheit konnte nicht ſchoͤner ſeyn, ſie
fuͤr eine Goͤttin, oder wenigſtens fuͤr eine der Geſpielen
Dianens anzuſehen, und dieſem Jrrthum gemaͤß zu be-
gruͤſſen. Aber ich, von neuen, nie gefuͤhlten, unbe-
ſchreiblichen Empfindungen gedruͤkt, ich konnte gar
nichts ſagen. Zu ihren Fuͤſſen haͤtte ich mich werfen
moͤgen; aber die Schuͤchternheit, welche (zumal in
meinem damaligen Alter) mit der erſten Liebe ſo un-
zertrennlich verbunden iſt, hielt mich zuruͤk; ich be-
ſorgte, daß ſie ſich einen nachtheiligen Begrif von der
tiefen Ehrerbietung, die ich fuͤr ſie empfand, aus einer
ſolchen Freyheit machen moͤchte. Meine Unbekannte
war nicht ſo ſchuͤchtern; ſie hub ſich, mit dieſer ſittſa-
men Anmuth, wodurch ſie ſich das erſte mal, als ich
ſie geſehen, in meinen Augen von allen ihren Geſpie-
len unterſchieden hatte, vom Boden auf, und gieng ein
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hier? ſagte ſie mit einer Stimme, die ich noch zu hoͤ-

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[297/0319] Siebentes Buch, viertes Capitel. daß ſie mich gewahr wurde. Dieſer Umſtand erlaubte mir meine eigene Stelle zu veraͤndern, und eine ſolche zu nehmen, daß ſie, ſo bald ſie die Augen aufſchluͤge, mich unfehlbar erkennen muͤßte. Dieſe Vorſicht hatte die verlangte Wuͤrkung. Sie erblikte mich; ſie ſtuzte; aber ſie erkannte mich doch zu ſchnell, um mich fuͤr ei- nen Satyren anzuſehen. Meine Erſcheinung ſchien ihr mehr Vergnuͤgen als Unruhe zu machen. Ein jeder an- drer, ſo gar ein Satyr, wuͤrde irgend ein artig ge- drehtes Compliment in Bereitſchaft gehabt haben, um ſeine Freude uͤber eine ſo reizende Erſcheinung auszu- druͤken; die Gelegenheit konnte nicht ſchoͤner ſeyn, ſie fuͤr eine Goͤttin, oder wenigſtens fuͤr eine der Geſpielen Dianens anzuſehen, und dieſem Jrrthum gemaͤß zu be- gruͤſſen. Aber ich, von neuen, nie gefuͤhlten, unbe- ſchreiblichen Empfindungen gedruͤkt, ich konnte gar nichts ſagen. Zu ihren Fuͤſſen haͤtte ich mich werfen moͤgen; aber die Schuͤchternheit, welche (zumal in meinem damaligen Alter) mit der erſten Liebe ſo un- zertrennlich verbunden iſt, hielt mich zuruͤk; ich be- ſorgte, daß ſie ſich einen nachtheiligen Begrif von der tiefen Ehrerbietung, die ich fuͤr ſie empfand, aus einer ſolchen Freyheit machen moͤchte. Meine Unbekannte war nicht ſo ſchuͤchtern; ſie hub ſich, mit dieſer ſittſa- men Anmuth, wodurch ſie ſich das erſte mal, als ich ſie geſehen, in meinen Augen von allen ihren Geſpie- len unterſchieden hatte, vom Boden auf, und gieng ein paar Schritte gegen mich. Wie finde ich den Agathon hier? ſagte ſie mit einer Stimme, die ich noch zu hoͤ- ren T 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/319>, abgerufen am 28.11.2024.