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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
len alle mal zu Gunsten ihrer Eigenliebe urtheilte, ziem-
lich wol zufrieden schien. Sie schrieb es vermuthlich
einer schüchternen Unentschlossenheit oder einem Streit
zwischen Ehrfurcht und Liebe bey, daß ich (ungeachtet
des starken Eindruks, den sie auf mich machte) ihr keine
Gelegenheit gab, die Delicatesse ihrer Tugend sehen zu
lassen. Jch hatte Aufmunterungen nöthig, zu welchen
man bey einem geübtern Liebhaber sich nicht herablassen
würde. Die Geschiklichkeit, die man mir in der Kunst,
die Dichter zu lesen, beylegte, diente ihr zum Vor-
wand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuschlagen, von dem
sie sich einige Beföderung dieser Absicht versprechen konnte.
Sie versicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor
sey, und bat mich, ihr das Vergnügen zu machen, sie
eine Probe meines gepriesenen Talents hören zu lassen.
Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und stellte
sich, nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es
ihr gleichgültig sey, welcher Gesang es wäre; sie gab
mir den ersten den besten in die Hände; aber zu gutem
Glüke war es gerade derjenige, worinn Juno, mit dem
Gürtel der Venus geschmükt, den Vater der Götter in
eine so lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer ehelichen
Liebe sezt. -- Von dem dichterischen Feuer, wel-
ches in diesem Gemählde glühet, und dem süssen Wol-
klang der Homerischen Verse entzükt, beobachtete sie
nicht, in was für eine verführische Unordnung ein
Theil ihres Puzes durch eine Bewegung der Bewunde-
rung, welche sie machte, gekommen war. Sie nahm
von dieser Stelle Anlas, die unumschränkte Gewalt des

Liebes-

Agathon.
len alle mal zu Gunſten ihrer Eigenliebe urtheilte, ziem-
lich wol zufrieden ſchien. Sie ſchrieb es vermuthlich
einer ſchuͤchternen Unentſchloſſenheit oder einem Streit
zwiſchen Ehrfurcht und Liebe bey, daß ich (ungeachtet
des ſtarken Eindruks, den ſie auf mich machte) ihr keine
Gelegenheit gab, die Delicateſſe ihrer Tugend ſehen zu
laſſen. Jch hatte Aufmunterungen noͤthig, zu welchen
man bey einem geuͤbtern Liebhaber ſich nicht herablaſſen
wuͤrde. Die Geſchiklichkeit, die man mir in der Kunſt,
die Dichter zu leſen, beylegte, diente ihr zum Vor-
wand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuſchlagen, von dem
ſie ſich einige Befoͤderung dieſer Abſicht verſprechen konnte.
Sie verſicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor
ſey, und bat mich, ihr das Vergnuͤgen zu machen, ſie
eine Probe meines geprieſenen Talents hoͤren zu laſſen.
Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und ſtellte
ſich, nachdem ſie eine Weile geſucht hatte, als ob es
ihr gleichguͤltig ſey, welcher Geſang es waͤre; ſie gab
mir den erſten den beſten in die Haͤnde; aber zu gutem
Gluͤke war es gerade derjenige, worinn Juno, mit dem
Guͤrtel der Venus geſchmuͤkt, den Vater der Goͤtter in
eine ſo lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer ehelichen
Liebe ſezt. — Von dem dichteriſchen Feuer, wel-
ches in dieſem Gemaͤhlde gluͤhet, und dem ſuͤſſen Wol-
klang der Homeriſchen Verſe entzuͤkt, beobachtete ſie
nicht, in was fuͤr eine verfuͤhriſche Unordnung ein
Theil ihres Puzes durch eine Bewegung der Bewunde-
rung, welche ſie machte, gekommen war. Sie nahm
von dieſer Stelle Anlas, die unumſchraͤnkte Gewalt des

Liebes-
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[288/0310] Agathon. len alle mal zu Gunſten ihrer Eigenliebe urtheilte, ziem- lich wol zufrieden ſchien. Sie ſchrieb es vermuthlich einer ſchuͤchternen Unentſchloſſenheit oder einem Streit zwiſchen Ehrfurcht und Liebe bey, daß ich (ungeachtet des ſtarken Eindruks, den ſie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die Delicateſſe ihrer Tugend ſehen zu laſſen. Jch hatte Aufmunterungen noͤthig, zu welchen man bey einem geuͤbtern Liebhaber ſich nicht herablaſſen wuͤrde. Die Geſchiklichkeit, die man mir in der Kunſt, die Dichter zu leſen, beylegte, diente ihr zum Vor- wand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuſchlagen, von dem ſie ſich einige Befoͤderung dieſer Abſicht verſprechen konnte. Sie verſicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor ſey, und bat mich, ihr das Vergnuͤgen zu machen, ſie eine Probe meines geprieſenen Talents hoͤren zu laſſen. Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und ſtellte ſich, nachdem ſie eine Weile geſucht hatte, als ob es ihr gleichguͤltig ſey, welcher Geſang es waͤre; ſie gab mir den erſten den beſten in die Haͤnde; aber zu gutem Gluͤke war es gerade derjenige, worinn Juno, mit dem Guͤrtel der Venus geſchmuͤkt, den Vater der Goͤtter in eine ſo lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer ehelichen Liebe ſezt. — Von dem dichteriſchen Feuer, wel- ches in dieſem Gemaͤhlde gluͤhet, und dem ſuͤſſen Wol- klang der Homeriſchen Verſe entzuͤkt, beobachtete ſie nicht, in was fuͤr eine verfuͤhriſche Unordnung ein Theil ihres Puzes durch eine Bewegung der Bewunde- rung, welche ſie machte, gekommen war. Sie nahm von dieſer Stelle Anlas, die unumſchraͤnkte Gewalt des Liebes-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/310>, abgerufen am 24.11.2024.