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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
von der Welt, zu der zärtlichen Priesterin geruffen wur-
de. -- Die Begierde und die Hoffnung, meine Ge-
liebte bey dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte
mir anfänglich diese Einladung sehr willkommen; aber
meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben,
wie schwer es mir seyn würde, wenn meine Unbekannte zu-
gegen wäre, meine Empfindungen für sie den Augen ei-
ner Nebenbuhlerin zu verbergen. Die Künste der Ver-
stellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemüths-
Regungen bildeten sich (auch wider meinen Willen) zu
schnell und zu deutlich in meinem Aeusserlichen ab, als
daß ich mich bey allen meinen Bestrebungen, vorsichtig
zu seyn, sicher genug halten konnte. Diese Gedanken
gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes
Aussehen, als ich vor die Pythia geführt wurde. Al-
lein, da ich niemand, als eine kleine Sclavin von
neun oder zehen Jahren, bey ihr fand, erholte ich
mich bald wieder; und sie selbst schien mit ihren eigenen
Bewegungen zu sehr beschäftigt, um auf die meinige
genau Acht zu geben, -- oder (welches wenigstens
eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veränderung,
die sie in meinem Gesichte wahrnehmen mußte, zu Gun-
sten ihrer Reizungen aus, von denen sie sich dieses mal
desto mehr Würkung versprechen konnte, je mehr sie
vermuthlich darauf studiert hatte, sie in dieses reizende
Schatten-Licht zu sezen, welches die Einbildungs-Kraft
so lebhaft zum Vortheil der Sinnen ins Spiel zu ziehen
pflegt. Sie saß oder lag (denn ihre Stellung war
ein Mittelding von beyden) auf einem mit Silber und

Perlen

Agathon.
von der Welt, zu der zaͤrtlichen Prieſterin geruffen wur-
de. — Die Begierde und die Hoffnung, meine Ge-
liebte bey dieſer Gelegenheit wieder zu ſehen, machte
mir anfaͤnglich dieſe Einladung ſehr willkommen; aber
meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben,
wie ſchwer es mir ſeyn wuͤrde, wenn meine Unbekannte zu-
gegen waͤre, meine Empfindungen fuͤr ſie den Augen ei-
ner Nebenbuhlerin zu verbergen. Die Kuͤnſte der Ver-
ſtellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemuͤths-
Regungen bildeten ſich (auch wider meinen Willen) zu
ſchnell und zu deutlich in meinem Aeuſſerlichen ab, als
daß ich mich bey allen meinen Beſtrebungen, vorſichtig
zu ſeyn, ſicher genug halten konnte. Dieſe Gedanken
gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes
Ausſehen, als ich vor die Pythia gefuͤhrt wurde. Al-
lein, da ich niemand, als eine kleine Sclavin von
neun oder zehen Jahren, bey ihr fand, erholte ich
mich bald wieder; und ſie ſelbſt ſchien mit ihren eigenen
Bewegungen zu ſehr beſchaͤftigt, um auf die meinige
genau Acht zu geben, — oder (welches wenigſtens
eben ſo wahrſcheinlich iſt) ſie legte die Veraͤnderung,
die ſie in meinem Geſichte wahrnehmen mußte, zu Gun-
ſten ihrer Reizungen aus, von denen ſie ſich dieſes mal
deſto mehr Wuͤrkung verſprechen konnte, je mehr ſie
vermuthlich darauf ſtudiert hatte, ſie in dieſes reizende
Schatten-Licht zu ſezen, welches die Einbildungs-Kraft
ſo lebhaft zum Vortheil der Sinnen ins Spiel zu ziehen
pflegt. Sie ſaß oder lag (denn ihre Stellung war
ein Mittelding von beyden) auf einem mit Silber und

Perlen
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[286/0308] Agathon. von der Welt, zu der zaͤrtlichen Prieſterin geruffen wur- de. — Die Begierde und die Hoffnung, meine Ge- liebte bey dieſer Gelegenheit wieder zu ſehen, machte mir anfaͤnglich dieſe Einladung ſehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben, wie ſchwer es mir ſeyn wuͤrde, wenn meine Unbekannte zu- gegen waͤre, meine Empfindungen fuͤr ſie den Augen ei- ner Nebenbuhlerin zu verbergen. Die Kuͤnſte der Ver- ſtellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemuͤths- Regungen bildeten ſich (auch wider meinen Willen) zu ſchnell und zu deutlich in meinem Aeuſſerlichen ab, als daß ich mich bey allen meinen Beſtrebungen, vorſichtig zu ſeyn, ſicher genug halten konnte. Dieſe Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Ausſehen, als ich vor die Pythia gefuͤhrt wurde. Al- lein, da ich niemand, als eine kleine Sclavin von neun oder zehen Jahren, bey ihr fand, erholte ich mich bald wieder; und ſie ſelbſt ſchien mit ihren eigenen Bewegungen zu ſehr beſchaͤftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben, — oder (welches wenigſtens eben ſo wahrſcheinlich iſt) ſie legte die Veraͤnderung, die ſie in meinem Geſichte wahrnehmen mußte, zu Gun- ſten ihrer Reizungen aus, von denen ſie ſich dieſes mal deſto mehr Wuͤrkung verſprechen konnte, je mehr ſie vermuthlich darauf ſtudiert hatte, ſie in dieſes reizende Schatten-Licht zu ſezen, welches die Einbildungs-Kraft ſo lebhaft zum Vortheil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie ſaß oder lag (denn ihre Stellung war ein Mittelding von beyden) auf einem mit Silber und Perlen

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/308>, abgerufen am 24.11.2024.