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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
vermeynt. Alle Jungfrauen über vierzehn Jahre erschie-
nen dabey in schneeweissem Gewand, mit aufgelößten
fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blu-
men-Kränzen umwunden, und sangen Hymnen zum
Preiß der jungfräulichen Göttin. Auch alte halb ver-
loschne Augen heiterten sich beym Anblik einer so zahl-
reichen Menge junger Schönen auf, deren geringster
Reiz die frischeste Blum der Jugend war. Urtheile,
schöne Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer
eines blühenden Blumen-Stüks schon in eine Art von
Entzükung sezte, bey einem solchen Auftritt unempfind-
lich bleiben konnte? Meine Blike irrten in einer zärtli-
chen Verwirrung unter diesen anmuthsvollen Geschöpfen
herum; bis sie sich plözlich auf einer einzigen sammel-
ten, deren erster Anblik meinem Herzen keinen Wunsch
übrig ließ, etwas anders zu sehen. Vielleicht würde
mancher sie unter so vielen Schönen kaum besonders
wahrgenommen haben; denn der schönste Wuchs, die
regelmässigsten Züge, langes Haar, dessen wallende Lo-
ken bis zu den Knien herunterflossen, und eine Farbe,
welche Lilien und Rosen, wenn sie ihre eigene Schön-
heit fühlen könnten, beschämt hätte, alle diese Reizun-
gen waren ihr mit ihren Gespielen gemein; viele über-
traffen sie noch in einem und dem andern Stüke der
Schönheit, und wenn ein Mahler unter der ganzen
Schaar hätte entscheiden sollen, welche die Schönste
sey, so würde sie vielleicht übergangen worden seyn;
allein mein Herz urtheilte nicht nach den Regeln der
Kunst. Jch empfand, oder glaubte zu empfinden,

(und
S 5

Siebentes Buch, drittes Capitel.
vermeynt. Alle Jungfrauen uͤber vierzehn Jahre erſchie-
nen dabey in ſchneeweiſſem Gewand, mit aufgeloͤßten
fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blu-
men-Kraͤnzen umwunden, und ſangen Hymnen zum
Preiß der jungfraͤulichen Goͤttin. Auch alte halb ver-
loſchne Augen heiterten ſich beym Anblik einer ſo zahl-
reichen Menge junger Schoͤnen auf, deren geringſter
Reiz die friſcheſte Blum der Jugend war. Urtheile,
ſchoͤne Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer
eines bluͤhenden Blumen-Stuͤks ſchon in eine Art von
Entzuͤkung ſezte, bey einem ſolchen Auftritt unempfind-
lich bleiben konnte? Meine Blike irrten in einer zaͤrtli-
chen Verwirrung unter dieſen anmuthsvollen Geſchoͤpfen
herum; bis ſie ſich ploͤzlich auf einer einzigen ſammel-
ten, deren erſter Anblik meinem Herzen keinen Wunſch
uͤbrig ließ, etwas anders zu ſehen. Vielleicht wuͤrde
mancher ſie unter ſo vielen Schoͤnen kaum beſonders
wahrgenommen haben; denn der ſchoͤnſte Wuchs, die
regelmaͤſſigſten Zuͤge, langes Haar, deſſen wallende Lo-
ken bis zu den Knien herunterfloſſen, und eine Farbe,
welche Lilien und Roſen, wenn ſie ihre eigene Schoͤn-
heit fuͤhlen koͤnnten, beſchaͤmt haͤtte, alle dieſe Reizun-
gen waren ihr mit ihren Geſpielen gemein; viele uͤber-
traffen ſie noch in einem und dem andern Stuͤke der
Schoͤnheit, und wenn ein Mahler unter der ganzen
Schaar haͤtte entſcheiden ſollen, welche die Schoͤnſte
ſey, ſo wuͤrde ſie vielleicht uͤbergangen worden ſeyn;
allein mein Herz urtheilte nicht nach den Regeln der
Kunſt. Jch empfand, oder glaubte zu empfinden,

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S 5
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[281/0303] Siebentes Buch, drittes Capitel. vermeynt. Alle Jungfrauen uͤber vierzehn Jahre erſchie- nen dabey in ſchneeweiſſem Gewand, mit aufgeloͤßten fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blu- men-Kraͤnzen umwunden, und ſangen Hymnen zum Preiß der jungfraͤulichen Goͤttin. Auch alte halb ver- loſchne Augen heiterten ſich beym Anblik einer ſo zahl- reichen Menge junger Schoͤnen auf, deren geringſter Reiz die friſcheſte Blum der Jugend war. Urtheile, ſchoͤne Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer eines bluͤhenden Blumen-Stuͤks ſchon in eine Art von Entzuͤkung ſezte, bey einem ſolchen Auftritt unempfind- lich bleiben konnte? Meine Blike irrten in einer zaͤrtli- chen Verwirrung unter dieſen anmuthsvollen Geſchoͤpfen herum; bis ſie ſich ploͤzlich auf einer einzigen ſammel- ten, deren erſter Anblik meinem Herzen keinen Wunſch uͤbrig ließ, etwas anders zu ſehen. Vielleicht wuͤrde mancher ſie unter ſo vielen Schoͤnen kaum beſonders wahrgenommen haben; denn der ſchoͤnſte Wuchs, die regelmaͤſſigſten Zuͤge, langes Haar, deſſen wallende Lo- ken bis zu den Knien herunterfloſſen, und eine Farbe, welche Lilien und Roſen, wenn ſie ihre eigene Schoͤn- heit fuͤhlen koͤnnten, beſchaͤmt haͤtte, alle dieſe Reizun- gen waren ihr mit ihren Geſpielen gemein; viele uͤber- traffen ſie noch in einem und dem andern Stuͤke der Schoͤnheit, und wenn ein Mahler unter der ganzen Schaar haͤtte entſcheiden ſollen, welche die Schoͤnſte ſey, ſo wuͤrde ſie vielleicht uͤbergangen worden ſeyn; allein mein Herz urtheilte nicht nach den Regeln der Kunſt. Jch empfand, oder glaubte zu empfinden, (und S 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/303>, abgerufen am 29.09.2024.