Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
lange geübten Geduld einer bejahrten Priesterin, um
nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben, einem
Menschen, der aus lauter Jdeen zusammengesezt war,
ihre Absichten begreiflich zu machen. Und dennoch
fand sie sich endlich genöthigt, sich des einzigen Kunst-
griffs zu bedienen, von dem man in solchen Fällen
eine gewisse Würkung erwarten kan; sie hatte noch Rei-
zungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings
blenden konnten. Die Verwirrung, worein sie mich
durch den ersten Versuch von dieser Art gesezt sah,
schien ihr von guter Vorbedeutung zu seyn; und viel-
leicht hätte sie sich weniger in ihrer Erwartung betro-
gen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts be-
kannt war, meinem Herzen eine mehr als gewöhnliche
Stärke gegeben hätte.

Unsre Tugend, oder diejenigen Würkungen, welche
das Ansehen haben, aus einer so edeln Quelle zu flies-
sen, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns,
wenn sie gesehen würden, wo nicht alles, doch einen
grossen Theil unsers Verdienstes dabey entziehen wür-
den. Wie leicht ist es, der Versuchung einer Leiden-
schaft zu widerstehen, wenn ihr von einer stärkern die
Wage gehalten wird?

Kurz zuvor, eh die schöne Pythia ihren physicalischen
Versuch machte, war das Fest der Diana eingefallen,
welches zu Delphi mit aller der Feyerlichkeit begangen
wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu seyn

vermeynt.

Agathon.
lange geuͤbten Geduld einer bejahrten Prieſterin, um
nicht tauſendmal das Vorhaben aufzugeben, einem
Menſchen, der aus lauter Jdeen zuſammengeſezt war,
ihre Abſichten begreiflich zu machen. Und dennoch
fand ſie ſich endlich genoͤthigt, ſich des einzigen Kunſt-
griffs zu bedienen, von dem man in ſolchen Faͤllen
eine gewiſſe Wuͤrkung erwarten kan; ſie hatte noch Rei-
zungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings
blenden konnten. Die Verwirrung, worein ſie mich
durch den erſten Verſuch von dieſer Art geſezt ſah,
ſchien ihr von guter Vorbedeutung zu ſeyn; und viel-
leicht haͤtte ſie ſich weniger in ihrer Erwartung betro-
gen, wenn nicht ein Umſtand, von dem ihr nichts be-
kannt war, meinem Herzen eine mehr als gewoͤhnliche
Staͤrke gegeben haͤtte.

Unſre Tugend, oder diejenigen Wuͤrkungen, welche
das Anſehen haben, aus einer ſo edeln Quelle zu flieſ-
ſen, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns,
wenn ſie geſehen wuͤrden, wo nicht alles, doch einen
groſſen Theil unſers Verdienſtes dabey entziehen wuͤr-
den. Wie leicht iſt es, der Verſuchung einer Leiden-
ſchaft zu widerſtehen, wenn ihr von einer ſtaͤrkern die
Wage gehalten wird?

Kurz zuvor, eh die ſchoͤne Pythia ihren phyſicaliſchen
Verſuch machte, war das Feſt der Diana eingefallen,
welches zu Delphi mit aller der Feyerlichkeit begangen
wird, die man der Schweſter des Apollo ſchuldig zu ſeyn

vermeynt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0302" n="280"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
lange geu&#x0364;bten Geduld einer bejahrten Prie&#x017F;terin, um<lb/>
nicht tau&#x017F;endmal das Vorhaben aufzugeben, einem<lb/>
Men&#x017F;chen, der aus lauter Jdeen zu&#x017F;ammenge&#x017F;ezt war,<lb/>
ihre Ab&#x017F;ichten begreiflich zu machen. Und dennoch<lb/>
fand &#x017F;ie &#x017F;ich endlich geno&#x0364;thigt, &#x017F;ich des einzigen Kun&#x017F;t-<lb/>
griffs zu bedienen, von dem man in &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen<lb/>
eine gewi&#x017F;&#x017F;e Wu&#x0364;rkung erwarten kan; &#x017F;ie hatte noch Rei-<lb/>
zungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings<lb/>
blenden konnten. Die Verwirrung, worein &#x017F;ie mich<lb/>
durch den er&#x017F;ten Ver&#x017F;uch von die&#x017F;er Art ge&#x017F;ezt &#x017F;ah,<lb/>
&#x017F;chien ihr von guter Vorbedeutung zu &#x017F;eyn; und viel-<lb/>
leicht ha&#x0364;tte &#x017F;ie &#x017F;ich weniger in ihrer Erwartung betro-<lb/>
gen, wenn nicht ein Um&#x017F;tand, von dem ihr nichts be-<lb/>
kannt war, meinem Herzen eine mehr als gewo&#x0364;hnliche<lb/>
Sta&#x0364;rke gegeben ha&#x0364;tte.</p><lb/>
            <p>Un&#x017F;re Tugend, oder diejenigen Wu&#x0364;rkungen, welche<lb/>
das An&#x017F;ehen haben, aus einer &#x017F;o edeln Quelle zu flie&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns,<lb/>
wenn &#x017F;ie ge&#x017F;ehen wu&#x0364;rden, wo nicht alles, doch einen<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en Theil un&#x017F;ers Verdien&#x017F;tes dabey entziehen wu&#x0364;r-<lb/>
den. Wie leicht i&#x017F;t es, der Ver&#x017F;uchung einer Leiden-<lb/>
&#x017F;chaft zu wider&#x017F;tehen, wenn ihr von einer &#x017F;ta&#x0364;rkern die<lb/>
Wage gehalten wird?</p><lb/>
            <p>Kurz zuvor, eh die &#x017F;cho&#x0364;ne Pythia ihren phy&#x017F;icali&#x017F;chen<lb/>
Ver&#x017F;uch machte, war das Fe&#x017F;t der Diana eingefallen,<lb/>
welches zu Delphi mit aller der Feyerlichkeit begangen<lb/>
wird, die man der Schwe&#x017F;ter des Apollo &#x017F;chuldig zu &#x017F;eyn<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vermeynt.</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0302] Agathon. lange geuͤbten Geduld einer bejahrten Prieſterin, um nicht tauſendmal das Vorhaben aufzugeben, einem Menſchen, der aus lauter Jdeen zuſammengeſezt war, ihre Abſichten begreiflich zu machen. Und dennoch fand ſie ſich endlich genoͤthigt, ſich des einzigen Kunſt- griffs zu bedienen, von dem man in ſolchen Faͤllen eine gewiſſe Wuͤrkung erwarten kan; ſie hatte noch Rei- zungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein ſie mich durch den erſten Verſuch von dieſer Art geſezt ſah, ſchien ihr von guter Vorbedeutung zu ſeyn; und viel- leicht haͤtte ſie ſich weniger in ihrer Erwartung betro- gen, wenn nicht ein Umſtand, von dem ihr nichts be- kannt war, meinem Herzen eine mehr als gewoͤhnliche Staͤrke gegeben haͤtte. Unſre Tugend, oder diejenigen Wuͤrkungen, welche das Anſehen haben, aus einer ſo edeln Quelle zu flieſ- ſen, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns, wenn ſie geſehen wuͤrden, wo nicht alles, doch einen groſſen Theil unſers Verdienſtes dabey entziehen wuͤr- den. Wie leicht iſt es, der Verſuchung einer Leiden- ſchaft zu widerſtehen, wenn ihr von einer ſtaͤrkern die Wage gehalten wird? Kurz zuvor, eh die ſchoͤne Pythia ihren phyſicaliſchen Verſuch machte, war das Feſt der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der Feyerlichkeit begangen wird, die man der Schweſter des Apollo ſchuldig zu ſeyn vermeynt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/302
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/302>, abgerufen am 24.11.2024.