So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, däucht mich, daß sich in einer jeden, die zu einem gewissen Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge- wisses idealisches Schöne bilde, welches (auch ohne daß man sich's bewußt ist) unsern Geschmak und unsre sittliche Urtheile bestimmt, und das Modell abgiebt, wornach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen was wir groß, schön und vortreflich nennen, zu entwerfen scheint. Dieses idealische Modell formiert sich (wie mich izo wenigstens däucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be- trachtungen geleitet haben) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhang der Gegenstände, worinn wir zu leben anfangen.
Daher (wie die Erfahrung zu bestätigen scheint) so viele besondere Denk- und Sinnesarten als man ver- schiedene Erziehungen und Stände in der menschli- chen Gesellschaft antrift. Daher der Spartanische Hel- denmuth, die Attische Urbanität, und der aufgedun- sene Stolz der Asiaten; daher die Verachtung des Geo- meters für den Dichter, oder des speculierenden Kauf- manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar scheinen, weil sie sich in keine Dari- ci verwandeln wie die seinigen; daher der grobe Ma- terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un- gestüm des Seefahrers, die mechanische Unempfindlich- keit des Soldaten, und die einfältige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die Schwär-
merey,
R 3
Siebentes Buch, erſtes Capitel.
So viel ich die Natur unſrer Seele kenne, daͤucht mich, daß ſich in einer jeden, die zu einem gewiſſen Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge- wiſſes idealiſches Schoͤne bilde, welches (auch ohne daß man ſich’s bewußt iſt) unſern Geſchmak und unſre ſittliche Urtheile beſtimmt, und das Modell abgiebt, wornach unſre Einbildungskraft die beſondern Bilder deſſen was wir groß, ſchoͤn und vortreflich nennen, zu entwerfen ſcheint. Dieſes idealiſche Modell formiert ſich (wie mich izo wenigſtens daͤucht, nachdem neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be- trachtungen geleitet haben) aus der Beſchaffenheit und dem Zuſammenhang der Gegenſtaͤnde, worinn wir zu leben anfangen.
Daher (wie die Erfahrung zu beſtaͤtigen ſcheint) ſo viele beſondere Denk- und Sinnesarten als man ver- ſchiedene Erziehungen und Staͤnde in der menſchli- chen Geſellſchaft antrift. Daher der Spartaniſche Hel- denmuth, die Attiſche Urbanitaͤt, und der aufgedun- ſene Stolz der Aſiaten; daher die Verachtung des Geo- meters fuͤr den Dichter, oder des ſpeculierenden Kauf- manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar ſcheinen, weil ſie ſich in keine Dari- ci verwandeln wie die ſeinigen; daher der grobe Ma- terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un- geſtuͤm des Seefahrers, die mechaniſche Unempfindlich- keit des Soldaten, und die einfaͤltige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, ſchoͤne Danae, die Schwaͤr-
merey,
R 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0283"n="261"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Siebentes Buch, erſtes Capitel.</hi></fw><lb/><p>So viel ich die Natur unſrer Seele kenne, daͤucht<lb/>
mich, daß ſich in einer jeden, die zu einem gewiſſen<lb/>
Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge-<lb/>
wiſſes idealiſches Schoͤne bilde, welches (auch ohne<lb/>
daß man ſich’s bewußt iſt) unſern Geſchmak und unſre<lb/>ſittliche Urtheile beſtimmt, und das Modell abgiebt,<lb/>
wornach unſre Einbildungskraft die beſondern Bilder<lb/>
deſſen was wir groß, ſchoͤn und vortreflich nennen, zu<lb/>
entwerfen ſcheint. Dieſes idealiſche Modell formiert<lb/>ſich (wie mich izo wenigſtens daͤucht, nachdem neue<lb/>
Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be-<lb/>
trachtungen geleitet haben) aus der Beſchaffenheit und<lb/>
dem Zuſammenhang der Gegenſtaͤnde, worinn wir zu<lb/>
leben anfangen.</p><lb/><p>Daher (wie die Erfahrung zu beſtaͤtigen ſcheint)<lb/>ſo viele beſondere Denk- und Sinnesarten als man ver-<lb/>ſchiedene Erziehungen und Staͤnde in der menſchli-<lb/>
chen Geſellſchaft antrift. Daher der Spartaniſche Hel-<lb/>
denmuth, die Attiſche Urbanitaͤt, und der aufgedun-<lb/>ſene Stolz der Aſiaten; daher die Verachtung des Geo-<lb/>
meters fuͤr den Dichter, oder des ſpeculierenden Kauf-<lb/>
manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die<lb/>
ihm unfruchtbar ſcheinen, weil ſie ſich in keine Dari-<lb/>
ci verwandeln wie die ſeinigen; daher der grobe Ma-<lb/>
terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un-<lb/>
geſtuͤm des Seefahrers, die mechaniſche Unempfindlich-<lb/>
keit des Soldaten, und die einfaͤltige Schlauheit des<lb/>
Landvolks; daher endlich, ſchoͤne Danae, die Schwaͤr-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">R 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">merey,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[261/0283]
Siebentes Buch, erſtes Capitel.
So viel ich die Natur unſrer Seele kenne, daͤucht
mich, daß ſich in einer jeden, die zu einem gewiſſen
Grade von Entwiklung gelangt, nach und nach ein ge-
wiſſes idealiſches Schoͤne bilde, welches (auch ohne
daß man ſich’s bewußt iſt) unſern Geſchmak und unſre
ſittliche Urtheile beſtimmt, und das Modell abgiebt,
wornach unſre Einbildungskraft die beſondern Bilder
deſſen was wir groß, ſchoͤn und vortreflich nennen, zu
entwerfen ſcheint. Dieſes idealiſche Modell formiert
ſich (wie mich izo wenigſtens daͤucht, nachdem neue
Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Be-
trachtungen geleitet haben) aus der Beſchaffenheit und
dem Zuſammenhang der Gegenſtaͤnde, worinn wir zu
leben anfangen.
Daher (wie die Erfahrung zu beſtaͤtigen ſcheint)
ſo viele beſondere Denk- und Sinnesarten als man ver-
ſchiedene Erziehungen und Staͤnde in der menſchli-
chen Geſellſchaft antrift. Daher der Spartaniſche Hel-
denmuth, die Attiſche Urbanitaͤt, und der aufgedun-
ſene Stolz der Aſiaten; daher die Verachtung des Geo-
meters fuͤr den Dichter, oder des ſpeculierenden Kauf-
manns gegen die Speculationen des Gelehrten, die
ihm unfruchtbar ſcheinen, weil ſie ſich in keine Dari-
ci verwandeln wie die ſeinigen; daher der grobe Ma-
terialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Un-
geſtuͤm des Seefahrers, die mechaniſche Unempfindlich-
keit des Soldaten, und die einfaͤltige Schlauheit des
Landvolks; daher endlich, ſchoͤne Danae, die Schwaͤr-
merey,
R 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/283>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.