Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. statt der unsichern und verworrenen aber desto lebhaf-tern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wunder- Geschichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Musik und die abbildenden Künste von den übernatür- lichen Gegenständen bekommen, allein mit den unver- fälschten Eindrüken der Natur und den Grundsäzen der Vernunft überschrieben; so ist sehr zu vermuthen, daß der Aberglaube noch grössere Mühe haben würde, die Vernunft -- als, in dem Falle, worinn die meisten sich befinden, die Vernunft Mühe hat, den Aberglauben von der einmal eingenommenen Herrschaft zu verdrän- gen. Der gröste Vortheil, den dieser über jene hat, hanget davon ab, daß er ihr zuvorkömmt. Aber wie leicht wird es ihm alsdenn sich einer noch unmündigen Seele zu bemeistern, wenn alle diese zauberische Kün- ste, welche die Natur im Nachahmen selbst zu übertreffen scheinen, ihre Kräfte vereinigen, die entzükten Sinnen zu überraschen? Wie natürlich muß es demjenigen wer- den die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich sich zu bereden, daß er ihre Gegenwart und Einflüsse füh- le, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen erster Anblik das Werk und die Wohnung eines Gottes an- kündet? Demjenigen, der gewohnt ist den Apollo eines Phidias vor sich zu sehen, und das mehr als menschli- che, welches die Kenner so sehr bewundern, der Na- tur des Gegenstands, nicht dem schöpferischen Geiste des Künstlers zuzuschreiben? So
Agathon. ſtatt der unſichern und verworrenen aber deſto lebhaf-tern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wunder- Geſchichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Muſik und die abbildenden Kuͤnſte von den uͤbernatuͤr- lichen Gegenſtaͤnden bekommen, allein mit den unver- faͤlſchten Eindruͤken der Natur und den Grundſaͤzen der Vernunft uͤberſchrieben; ſo iſt ſehr zu vermuthen, daß der Aberglaube noch groͤſſere Muͤhe haben wuͤrde, die Vernunft — als, in dem Falle, worinn die meiſten ſich befinden, die Vernunft Muͤhe hat, den Aberglauben von der einmal eingenommenen Herrſchaft zu verdraͤn- gen. Der groͤſte Vortheil, den dieſer uͤber jene hat, hanget davon ab, daß er ihr zuvorkoͤmmt. Aber wie leicht wird es ihm alsdenn ſich einer noch unmuͤndigen Seele zu bemeiſtern, wenn alle dieſe zauberiſche Kuͤn- ſte, welche die Natur im Nachahmen ſelbſt zu uͤbertreffen ſcheinen, ihre Kraͤfte vereinigen, die entzuͤkten Sinnen zu uͤberraſchen? Wie natuͤrlich muß es demjenigen wer- den die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich ſich zu bereden, daß er ihre Gegenwart und Einfluͤſſe fuͤh- le, der in einem Tempel aufgewachſen iſt, deſſen erſter Anblik das Werk und die Wohnung eines Gottes an- kuͤndet? Demjenigen, der gewohnt iſt den Apollo eines Phidias vor ſich zu ſehen, und das mehr als menſchli- che, welches die Kenner ſo ſehr bewundern, der Na- tur des Gegenſtands, nicht dem ſchoͤpferiſchen Geiſte des Kuͤnſtlers zuzuſchreiben? So
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Agathon.
ſtatt der unſichern und verworrenen aber deſto lebhaf-
tern Begriffe, welche wir durch Fabeln und Wunder-
Geſchichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die
Muſik und die abbildenden Kuͤnſte von den uͤbernatuͤr-
lichen Gegenſtaͤnden bekommen, allein mit den unver-
faͤlſchten Eindruͤken der Natur und den Grundſaͤzen der
Vernunft uͤberſchrieben; ſo iſt ſehr zu vermuthen, daß
der Aberglaube noch groͤſſere Muͤhe haben wuͤrde, die
Vernunft — als, in dem Falle, worinn die meiſten ſich
befinden, die Vernunft Muͤhe hat, den Aberglauben
von der einmal eingenommenen Herrſchaft zu verdraͤn-
gen. Der groͤſte Vortheil, den dieſer uͤber jene hat,
hanget davon ab, daß er ihr zuvorkoͤmmt. Aber wie
leicht wird es ihm alsdenn ſich einer noch unmuͤndigen
Seele zu bemeiſtern, wenn alle dieſe zauberiſche Kuͤn-
ſte, welche die Natur im Nachahmen ſelbſt zu uͤbertreffen
ſcheinen, ihre Kraͤfte vereinigen, die entzuͤkten Sinnen
zu uͤberraſchen? Wie natuͤrlich muß es demjenigen wer-
den die Gottheit des Apollo zu glauben, ja endlich ſich
zu bereden, daß er ihre Gegenwart und Einfluͤſſe fuͤh-
le, der in einem Tempel aufgewachſen iſt, deſſen erſter
Anblik das Werk und die Wohnung eines Gottes an-
kuͤndet? Demjenigen, der gewohnt iſt den Apollo eines
Phidias vor ſich zu ſehen, und das mehr als menſchli-
che, welches die Kenner ſo ſehr bewundern, der Na-
tur des Gegenſtands, nicht dem ſchoͤpferiſchen Geiſte des
Kuͤnſtlers zuzuſchreiben?
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