Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere Begebenheiten erzählt, als ein Romanen- Schreiber zu dichten wagen dürfte. Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, giebt mir neue Bekräftigung dieser Beobachtung ab. Er genoß noch der Süßigkeit des Schlafs, den Homer für ein so grosses Gut hält, daß er ihn auch den Unsterblichen zueignet; als er durch ein lermendes Getöse plözlich aufgeschrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo- her es zu kommen schiene, und glaubte in dem ver- mischten Getümmel ein seltsames Heulen und Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf eine fürchterliche Art wiederhallte. Agathon, der nur im Schlaf erschrekt werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Muth entgegen zu gehen, womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem nächtlichen Klappern der Walkmühlen Troz bot. Er bestieg also den obern Theil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond, dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus
den
Agathon,
Zweytes Capitel. Etwas ganz Unerwartetes.
Wenn es ſeine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der genaueſten Beziehung auf einander ſtehen, ſo iſt nicht minder gewiß, daß dieſe Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich iſt; und daher ſcheint es zu kommen, daß die Geſchichte zuweilen viel ſeltſamere Begebenheiten erzaͤhlt, als ein Romanen- Schreiber zu dichten wagen duͤrfte. Dasjenige, was unſerm Helden in dieſer Nacht begegnete, giebt mir neue Bekraͤftigung dieſer Beobachtung ab. Er genoß noch der Suͤßigkeit des Schlafs, den Homer fuͤr ein ſo groſſes Gut haͤlt, daß er ihn auch den Unſterblichen zueignet; als er durch ein lermendes Getoͤſe ploͤzlich aufgeſchrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo- her es zu kommen ſchiene, und glaubte in dem ver- miſchten Getuͤmmel ein ſeltſames Heulen und Jauchzen zu unterſcheiden, welches von den entgegenſtehenden Felſen auf eine fuͤrchterliche Art wiederhallte. Agathon, der nur im Schlaf erſchrekt werden konnte, beſchloß dieſem Getoͤſe mit eben dem Muth entgegen zu gehen, womit in ſpaͤtern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem naͤchtlichen Klappern der Walkmuͤhlen Troz bot. Er beſtieg alſo den obern Theil des Berges mit ſo vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond, deſſen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus
den
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0028"n="6"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Agathon,</hi></hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Zweytes Capitel.<lb/>
Etwas ganz Unerwartetes.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>enn es ſeine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der<lb/>
Welt in der genaueſten Beziehung auf einander ſtehen,<lb/>ſo iſt nicht minder gewiß, daß dieſe Verbindung unter<lb/>
einzelnen Dingen oft ganz unmerklich iſt; und daher<lb/>ſcheint es zu kommen, daß die Geſchichte zuweilen viel<lb/>ſeltſamere Begebenheiten erzaͤhlt, als ein Romanen-<lb/>
Schreiber zu dichten wagen duͤrfte. Dasjenige, was<lb/>
unſerm Helden in dieſer Nacht begegnete, giebt mir<lb/>
neue Bekraͤftigung dieſer Beobachtung ab. Er genoß<lb/>
noch der Suͤßigkeit des Schlafs, den Homer fuͤr ein ſo<lb/>
groſſes Gut haͤlt, daß er ihn auch den Unſterblichen<lb/>
zueignet; als er durch ein lermendes Getoͤſe ploͤzlich<lb/>
aufgeſchrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo-<lb/>
her es zu kommen ſchiene, und glaubte in dem ver-<lb/>
miſchten Getuͤmmel ein ſeltſames Heulen und Jauchzen<lb/>
zu unterſcheiden, welches von den entgegenſtehenden<lb/>
Felſen auf eine fuͤrchterliche Art wiederhallte. Agathon,<lb/>
der nur im Schlaf erſchrekt werden konnte, beſchloß<lb/>
dieſem Getoͤſe mit eben dem Muth entgegen zu gehen,<lb/>
womit in ſpaͤtern Zeiten der unbezwingbare Ritter von<lb/>
Mancha dem naͤchtlichen Klappern der Walkmuͤhlen<lb/>
Troz bot. Er beſtieg alſo den obern Theil des Berges<lb/>
mit ſo vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,<lb/>
deſſen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus<lb/><fwplace="bottom"type="catch">den</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[6/0028]
Agathon,
Zweytes Capitel.
Etwas ganz Unerwartetes.
Wenn es ſeine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der
Welt in der genaueſten Beziehung auf einander ſtehen,
ſo iſt nicht minder gewiß, daß dieſe Verbindung unter
einzelnen Dingen oft ganz unmerklich iſt; und daher
ſcheint es zu kommen, daß die Geſchichte zuweilen viel
ſeltſamere Begebenheiten erzaͤhlt, als ein Romanen-
Schreiber zu dichten wagen duͤrfte. Dasjenige, was
unſerm Helden in dieſer Nacht begegnete, giebt mir
neue Bekraͤftigung dieſer Beobachtung ab. Er genoß
noch der Suͤßigkeit des Schlafs, den Homer fuͤr ein ſo
groſſes Gut haͤlt, daß er ihn auch den Unſterblichen
zueignet; als er durch ein lermendes Getoͤſe ploͤzlich
aufgeſchrekt wurde. Er horchte gegen die Seite, wo-
her es zu kommen ſchiene, und glaubte in dem ver-
miſchten Getuͤmmel ein ſeltſames Heulen und Jauchzen
zu unterſcheiden, welches von den entgegenſtehenden
Felſen auf eine fuͤrchterliche Art wiederhallte. Agathon,
der nur im Schlaf erſchrekt werden konnte, beſchloß
dieſem Getoͤſe mit eben dem Muth entgegen zu gehen,
womit in ſpaͤtern Zeiten der unbezwingbare Ritter von
Mancha dem naͤchtlichen Klappern der Walkmuͤhlen
Troz bot. Er beſtieg alſo den obern Theil des Berges
mit ſo vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
deſſen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus
den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/28>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.