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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, fünftes Capitel.
geben wollen. Wie, wenn seine Liebe zu erkalten an-
fienge; sagte sie zu sich selbst -- erkalten? Him-
mel! wenn das möglich ist, so werde ich bald gar nicht
mehr geliebt seyn. -- Dieser Gedanke war zu ent-
sezlich für ein so völlig eingenommenes Herz, als daß
sie ihn sogleich hätte verbannen können -- wie
bescheiden macht die wahre Liebe! -- Sie,
welche gewohnt gewesen war, in allen Augen die Wür-
kungen ihres alles besiegenden Reizes zu sehen; sie,
welche unter den Vollkommensten ihres Geschlechts nicht
Eine kannte, von der sie jemals in dem süssen Bewußt-
seyn ihrer Vorzüglichkeit nur einen Augenblik gestört
worden wäre -- mit einem Wort -- Danae
-- fieng an mit Zittern sich selbst zu fragen: ob
sie auch liebenswürdig genug sey, das Herz eines so
ausserordentlichen Mannes in ihren Fesseln zu behalten?
Und wenn gleich die Eigenliebe sie von Seiten ihres
persönlichen Werthes hierüber beruhigte; so war sie
doch nicht ohne Sorgen, daß in ihrem Betragen etwas
gewesen seyn möchte, wodurch das Sonderbare in sei-
ner Denkungsart, oder die ekle Zärtlichkeit seiner
Empfindungen hätte beleidiget werden können. Hatte
sie ihm nicht zuviel Beweise von ihrer Liebe gegeben?
Hätte sie ihm seinen Sieg nicht schwehrer machen sol-
len? War es sicher, ihn die ganze Stärke ihrer Lei-
denschaft sehen zu lassen, und sich wegen der Erhal-
tung seines Herzens allein auf die gänzliche Dahinge-
bung des Jhrigen zu verlassen? -- Diese Fragen
waren weder spizfündig noch so leicht zu beantworten,

als

Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel.
geben wollen. Wie, wenn ſeine Liebe zu erkalten an-
fienge; ſagte ſie zu ſich ſelbſt — erkalten? Him-
mel! wenn das moͤglich iſt, ſo werde ich bald gar nicht
mehr geliebt ſeyn. — Dieſer Gedanke war zu ent-
ſezlich fuͤr ein ſo voͤllig eingenommenes Herz, als daß
ſie ihn ſogleich haͤtte verbannen koͤnnen — wie
beſcheiden macht die wahre Liebe! — Sie,
welche gewohnt geweſen war, in allen Augen die Wuͤr-
kungen ihres alles beſiegenden Reizes zu ſehen; ſie,
welche unter den Vollkommenſten ihres Geſchlechts nicht
Eine kannte, von der ſie jemals in dem ſuͤſſen Bewußt-
ſeyn ihrer Vorzuͤglichkeit nur einen Augenblik geſtoͤrt
worden waͤre — mit einem Wort — Danae
— fieng an mit Zittern ſich ſelbſt zu fragen: ob
ſie auch liebenswuͤrdig genug ſey, das Herz eines ſo
auſſerordentlichen Mannes in ihren Feſſeln zu behalten?
Und wenn gleich die Eigenliebe ſie von Seiten ihres
perſoͤnlichen Werthes hieruͤber beruhigte; ſo war ſie
doch nicht ohne Sorgen, daß in ihrem Betragen etwas
geweſen ſeyn moͤchte, wodurch das Sonderbare in ſei-
ner Denkungsart, oder die ekle Zaͤrtlichkeit ſeiner
Empfindungen haͤtte beleidiget werden koͤnnen. Hatte
ſie ihm nicht zuviel Beweiſe von ihrer Liebe gegeben?
Haͤtte ſie ihm ſeinen Sieg nicht ſchwehrer machen ſol-
len? War es ſicher, ihn die ganze Staͤrke ihrer Lei-
denſchaft ſehen zu laſſen, und ſich wegen der Erhal-
tung ſeines Herzens allein auf die gaͤnzliche Dahinge-
bung des Jhrigen zu verlaſſen? — Dieſe Fragen
waren weder ſpizfuͤndig noch ſo leicht zu beantworten,

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[251/0273] Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel. geben wollen. Wie, wenn ſeine Liebe zu erkalten an- fienge; ſagte ſie zu ſich ſelbſt — erkalten? Him- mel! wenn das moͤglich iſt, ſo werde ich bald gar nicht mehr geliebt ſeyn. — Dieſer Gedanke war zu ent- ſezlich fuͤr ein ſo voͤllig eingenommenes Herz, als daß ſie ihn ſogleich haͤtte verbannen koͤnnen — wie beſcheiden macht die wahre Liebe! — Sie, welche gewohnt geweſen war, in allen Augen die Wuͤr- kungen ihres alles beſiegenden Reizes zu ſehen; ſie, welche unter den Vollkommenſten ihres Geſchlechts nicht Eine kannte, von der ſie jemals in dem ſuͤſſen Bewußt- ſeyn ihrer Vorzuͤglichkeit nur einen Augenblik geſtoͤrt worden waͤre — mit einem Wort — Danae — fieng an mit Zittern ſich ſelbſt zu fragen: ob ſie auch liebenswuͤrdig genug ſey, das Herz eines ſo auſſerordentlichen Mannes in ihren Feſſeln zu behalten? Und wenn gleich die Eigenliebe ſie von Seiten ihres perſoͤnlichen Werthes hieruͤber beruhigte; ſo war ſie doch nicht ohne Sorgen, daß in ihrem Betragen etwas geweſen ſeyn moͤchte, wodurch das Sonderbare in ſei- ner Denkungsart, oder die ekle Zaͤrtlichkeit ſeiner Empfindungen haͤtte beleidiget werden koͤnnen. Hatte ſie ihm nicht zuviel Beweiſe von ihrer Liebe gegeben? Haͤtte ſie ihm ſeinen Sieg nicht ſchwehrer machen ſol- len? War es ſicher, ihn die ganze Staͤrke ihrer Lei- denſchaft ſehen zu laſſen, und ſich wegen der Erhal- tung ſeines Herzens allein auf die gaͤnzliche Dahinge- bung des Jhrigen zu verlaſſen? — Dieſe Fragen waren weder ſpizfuͤndig noch ſo leicht zu beantworten, als

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/273>, abgerufen am 24.11.2024.