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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, viertes Capitel.
eignen Daseyn überzeugt zu seyn glaubte.) Der Ver-
lust aller Hofnung, Psyche jemals wieder zu finden,
(welchen er, ohne genauere Untersuchung, für ausge-
macht annahm;) beydes schien ihm gegeu diesen Vor-
wurf von grossem Gewicht zu seyn; und um sich des-
selben gänzlich zu entledigen, gerieth er endlich gar auf
den Gedanken, daß seine Verbindung mit Danae mehr
die Liebe eines Bruders zu einer Schwester, eine blosse
Liebe der Seelen, als dasjenige gewesen sey, was im
eigentlichen Sinn Liebe genennt werden sollte; eine Ent-
dekung, die ihm bey Vergleichung der Symptomen die-
ser beyden Arten von Liebe, unwidersprechlich zu seyn
däuchte. Diese Vorstellungen stiegen nach und nach,
zumal an einem Orte, wo jede schattichte Laube, jede
Blumenbank, jede Grotte, ein Zeuge genoßner Glük-
seligkeiten war, zu einer solchen Lebhaftigkeit, daß sie
eine Art von Ruhe in seinem Gemüthe wieder herstell-
ten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der
in der Hize seines Fiebers gesund zu seyn wähnt, diesen
Nahmen verdienen kan. Doch verhinderten sie nicht,
daß, diesen ganzen Tag über, ein Eindruk von Schwer-
muth und Traurigkeit in seinem Gemüthe zurükblieb;
die Bilder der Psyche und der Tugend, welche er so
lange gewohnt gewesen war zu vermengen, stellten sich
immer wieder vor seine Augen; umfonst suchte er sie
durch Zerstreuungen zu entfernen; sie überraschten ihn
in seinen Arbeiten, und beunruhigten ihn in seinen Er-
gözungen; er suchte ihnen auszuweichen, der Unglük-
liche! und wurde nicht gewahr, daß eben dieses ein

voll-
Q 5

Sechstes Buch, viertes Capitel.
eignen Daſeyn uͤberzeugt zu ſeyn glaubte.) Der Ver-
luſt aller Hofnung, Pſyche jemals wieder zu finden,
(welchen er, ohne genauere Unterſuchung, fuͤr ausge-
macht annahm;) beydes ſchien ihm gegeu dieſen Vor-
wurf von groſſem Gewicht zu ſeyn; und um ſich deſ-
ſelben gaͤnzlich zu entledigen, gerieth er endlich gar auf
den Gedanken, daß ſeine Verbindung mit Danae mehr
die Liebe eines Bruders zu einer Schweſter, eine bloſſe
Liebe der Seelen, als dasjenige geweſen ſey, was im
eigentlichen Sinn Liebe genennt werden ſollte; eine Ent-
dekung, die ihm bey Vergleichung der Symptomen die-
ſer beyden Arten von Liebe, unwiderſprechlich zu ſeyn
daͤuchte. Dieſe Vorſtellungen ſtiegen nach und nach,
zumal an einem Orte, wo jede ſchattichte Laube, jede
Blumenbank, jede Grotte, ein Zeuge genoßner Gluͤk-
ſeligkeiten war, zu einer ſolchen Lebhaftigkeit, daß ſie
eine Art von Ruhe in ſeinem Gemuͤthe wieder herſtell-
ten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der
in der Hize ſeines Fiebers geſund zu ſeyn waͤhnt, dieſen
Nahmen verdienen kan. Doch verhinderten ſie nicht,
daß, dieſen ganzen Tag uͤber, ein Eindruk von Schwer-
muth und Traurigkeit in ſeinem Gemuͤthe zuruͤkblieb;
die Bilder der Pſyche und der Tugend, welche er ſo
lange gewohnt geweſen war zu vermengen, ſtellten ſich
immer wieder vor ſeine Augen; umfonſt ſuchte er ſie
durch Zerſtreuungen zu entfernen; ſie uͤberraſchten ihn
in ſeinen Arbeiten, und beunruhigten ihn in ſeinen Er-
goͤzungen; er ſuchte ihnen auszuweichen, der Ungluͤk-
liche! und wurde nicht gewahr, daß eben dieſes ein

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Q 5
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[249/0271] Sechstes Buch, viertes Capitel. eignen Daſeyn uͤberzeugt zu ſeyn glaubte.) Der Ver- luſt aller Hofnung, Pſyche jemals wieder zu finden, (welchen er, ohne genauere Unterſuchung, fuͤr ausge- macht annahm;) beydes ſchien ihm gegeu dieſen Vor- wurf von groſſem Gewicht zu ſeyn; und um ſich deſ- ſelben gaͤnzlich zu entledigen, gerieth er endlich gar auf den Gedanken, daß ſeine Verbindung mit Danae mehr die Liebe eines Bruders zu einer Schweſter, eine bloſſe Liebe der Seelen, als dasjenige geweſen ſey, was im eigentlichen Sinn Liebe genennt werden ſollte; eine Ent- dekung, die ihm bey Vergleichung der Symptomen die- ſer beyden Arten von Liebe, unwiderſprechlich zu ſeyn daͤuchte. Dieſe Vorſtellungen ſtiegen nach und nach, zumal an einem Orte, wo jede ſchattichte Laube, jede Blumenbank, jede Grotte, ein Zeuge genoßner Gluͤk- ſeligkeiten war, zu einer ſolchen Lebhaftigkeit, daß ſie eine Art von Ruhe in ſeinem Gemuͤthe wieder herſtell- ten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der in der Hize ſeines Fiebers geſund zu ſeyn waͤhnt, dieſen Nahmen verdienen kan. Doch verhinderten ſie nicht, daß, dieſen ganzen Tag uͤber, ein Eindruk von Schwer- muth und Traurigkeit in ſeinem Gemuͤthe zuruͤkblieb; die Bilder der Pſyche und der Tugend, welche er ſo lange gewohnt geweſen war zu vermengen, ſtellten ſich immer wieder vor ſeine Augen; umfonſt ſuchte er ſie durch Zerſtreuungen zu entfernen; ſie uͤberraſchten ihn in ſeinen Arbeiten, und beunruhigten ihn in ſeinen Er- goͤzungen; er ſuchte ihnen auszuweichen, der Ungluͤk- liche! und wurde nicht gewahr, daß eben dieſes ein voll- Q 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/271>, abgerufen am 24.11.2024.