Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. bis auf einmal der Nebel und seine ganze fröliche Ge-sellschaft verschwand: Jhm war als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufschlug, sah er sich an der Spize eines jähen Felsens, unter welchem ein reissender Strom seine sprudelnden Wellen fortwälzte. Gegen ihm über, auf dem andern Ufer des Flusses, stand Psyche; ein schneeweisses Gewand floß zu ihren Füssen herab; ganz einsam und traurig stand sie, und heftete Blike auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne sich einen Augenblik zu be- sinnen, stürzte er sich in den Fluß hinab, arbeitete sich ans andre Ufer hinüber, und eilte, sich seiner Psyche zu Füssen zu werfen. Aber sie entschlüpfte wie ein Schat- ten vor ihm her, ohne daß sie aufhörte, sichtbar zu seyn; ihr Gesicht war traurig, und ihre rechte Hand wieß in die Ferne, wo er die goldnen Thürme und die heiligen Hayne des delphischen Tempels ganz deut- lich zu unterscheiden glaubte. Thränen lieffen bey die- sem Anlaß über seine Wangen herab; er strekte seine Arme, flehend, und von unaussprechlichen Empfindun- gen beklemmt, nach der geliebten Psyche aus; aber sie floh eilends von ihm weg, einer Bildsäule der Tugend zu, welche unter den Trümmern eines verfallnen Tem- pels, einsam und unversehrt, in majestätischer Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus stand. Psyche umarmte diese Bildsäule, warf noch einen tiefsinnigen Blik auf ihn und verschwand. Verzweifelnd wollte er ihr nach- eilen, als er sich plözlich in einem tieffen Schlamme versenket sah; und die Bestrebung, die er anwendete, sich
Agathon. bis auf einmal der Nebel und ſeine ganze froͤliche Ge-ſellſchaft verſchwand: Jhm war als ob er aus einem tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufſchlug, ſah er ſich an der Spize eines jaͤhen Felſens, unter welchem ein reiſſender Strom ſeine ſprudelnden Wellen fortwaͤlzte. Gegen ihm uͤber, auf dem andern Ufer des Fluſſes, ſtand Pſyche; ein ſchneeweiſſes Gewand floß zu ihren Fuͤſſen herab; ganz einſam und traurig ſtand ſie, und heftete Blike auf ihn, die ihm das Herz durchbohrten. Ohne ſich einen Augenblik zu be- ſinnen, ſtuͤrzte er ſich in den Fluß hinab, arbeitete ſich ans andre Ufer hinuͤber, und eilte, ſich ſeiner Pſyche zu Fuͤſſen zu werfen. Aber ſie entſchluͤpfte wie ein Schat- ten vor ihm her, ohne daß ſie aufhoͤrte, ſichtbar zu ſeyn; ihr Geſicht war traurig, und ihre rechte Hand wieß in die Ferne, wo er die goldnen Thuͤrme und die heiligen Hayne des delphiſchen Tempels ganz deut- lich zu unterſcheiden glaubte. Thraͤnen lieffen bey die- ſem Anlaß uͤber ſeine Wangen herab; er ſtrekte ſeine Arme, flehend, und von unausſprechlichen Empfindun- gen beklemmt, nach der geliebten Pſyche aus; aber ſie floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tugend zu, welche unter den Truͤmmern eines verfallnen Tem- pels, einſam und unverſehrt, in majeſtaͤtiſcher Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus ſtand. Pſyche umarmte dieſe Bildſaͤule, warf noch einen tiefſinnigen Blik auf ihn und verſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nach- eilen, als er ſich ploͤzlich in einem tieffen Schlamme verſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwendete, ſich
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0266" n="244"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/> bis auf einmal der Nebel und ſeine ganze froͤliche Ge-<lb/> ſellſchaft verſchwand: Jhm war als ob er aus einem<lb/> tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufſchlug,<lb/> ſah er ſich an der Spize eines jaͤhen Felſens, unter<lb/> welchem ein reiſſender Strom ſeine ſprudelnden Wellen<lb/> fortwaͤlzte. Gegen ihm uͤber, auf dem andern Ufer<lb/> des Fluſſes, ſtand Pſyche; ein ſchneeweiſſes Gewand<lb/> floß zu ihren Fuͤſſen herab; ganz einſam und traurig<lb/> ſtand ſie, und heftete Blike auf ihn, die ihm das<lb/> Herz durchbohrten. Ohne ſich einen Augenblik zu be-<lb/> ſinnen, ſtuͤrzte er ſich in den Fluß hinab, arbeitete ſich<lb/> ans andre Ufer hinuͤber, und eilte, ſich ſeiner Pſyche zu<lb/> Fuͤſſen zu werfen. Aber ſie entſchluͤpfte wie ein Schat-<lb/> ten vor ihm her, ohne daß ſie aufhoͤrte, ſichtbar zu<lb/> ſeyn; ihr Geſicht war traurig, und ihre rechte Hand<lb/> wieß in die Ferne, wo er die goldnen Thuͤrme und<lb/> die heiligen Hayne des delphiſchen Tempels ganz deut-<lb/> lich zu unterſcheiden glaubte. Thraͤnen lieffen bey die-<lb/> ſem Anlaß uͤber ſeine Wangen herab; er ſtrekte ſeine<lb/> Arme, flehend, und von unausſprechlichen Empfindun-<lb/> gen beklemmt, nach der geliebten Pſyche aus; aber ſie<lb/> floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tugend<lb/> zu, welche unter den Truͤmmern eines verfallnen Tem-<lb/> pels, einſam und unverſehrt, in majeſtaͤtiſcher Ruhe<lb/> auf einem unbeweglichen Cubus ſtand. Pſyche umarmte<lb/> dieſe Bildſaͤule, warf noch einen tiefſinnigen Blik auf<lb/> ihn und verſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nach-<lb/> eilen, als er ſich ploͤzlich in einem tieffen Schlamme<lb/> verſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwendete,<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſich</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [244/0266]
Agathon.
bis auf einmal der Nebel und ſeine ganze froͤliche Ge-
ſellſchaft verſchwand: Jhm war als ob er aus einem
tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufſchlug,
ſah er ſich an der Spize eines jaͤhen Felſens, unter
welchem ein reiſſender Strom ſeine ſprudelnden Wellen
fortwaͤlzte. Gegen ihm uͤber, auf dem andern Ufer
des Fluſſes, ſtand Pſyche; ein ſchneeweiſſes Gewand
floß zu ihren Fuͤſſen herab; ganz einſam und traurig
ſtand ſie, und heftete Blike auf ihn, die ihm das
Herz durchbohrten. Ohne ſich einen Augenblik zu be-
ſinnen, ſtuͤrzte er ſich in den Fluß hinab, arbeitete ſich
ans andre Ufer hinuͤber, und eilte, ſich ſeiner Pſyche zu
Fuͤſſen zu werfen. Aber ſie entſchluͤpfte wie ein Schat-
ten vor ihm her, ohne daß ſie aufhoͤrte, ſichtbar zu
ſeyn; ihr Geſicht war traurig, und ihre rechte Hand
wieß in die Ferne, wo er die goldnen Thuͤrme und
die heiligen Hayne des delphiſchen Tempels ganz deut-
lich zu unterſcheiden glaubte. Thraͤnen lieffen bey die-
ſem Anlaß uͤber ſeine Wangen herab; er ſtrekte ſeine
Arme, flehend, und von unausſprechlichen Empfindun-
gen beklemmt, nach der geliebten Pſyche aus; aber ſie
floh eilends von ihm weg, einer Bildſaͤule der Tugend
zu, welche unter den Truͤmmern eines verfallnen Tem-
pels, einſam und unverſehrt, in majeſtaͤtiſcher Ruhe
auf einem unbeweglichen Cubus ſtand. Pſyche umarmte
dieſe Bildſaͤule, warf noch einen tiefſinnigen Blik auf
ihn und verſchwand. Verzweifelnd wollte er ihr nach-
eilen, als er ſich ploͤzlich in einem tieffen Schlamme
verſenket ſah; und die Beſtrebung, die er anwendete,
ſich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |