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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
vestalische Tugend foderte) über die ihrigen, wenn sie
auch bekannt gewesen wären, sehr strenge Urtheile zu
besorgen gehabt hätte.

Allein Hippias war kaum von seiner Reise zurükge-
kommen, so ließ er eine seiner ersten Sorgen seyn,
sich in eigner Person nach dem Fortgang des Entwurfs
zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzu-
platonischen Callias gemeinschaftlich angelegt hatte. Die
besondere Vertraulichkeit, worinn er seit mehr als zehn
Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das vorzügliche
Recht, sie auch alsdann zu überraschen, wenn sie sonst
für niemand sichtbar war. Er eilte also, so bald er
nur konnte, nach ihrem Landgute; und hier brauchte
es nur einen Blik auf unsre Liebende zu werfen, um
zu sehen, wie viel in seiner Abwesenheit mit ihnen
vorgegangen war. Ein gewisser Zwang, eine gewisse
Zurükhaltung, eine Art von schamhafter Schüchtern-
heit, welche ihm besonders an der Pflegtochter Aspa-
siens fast lächerlich vorkam, war das erste, was ihm
an beyden in die Augen fiel. Wahre Liebe (wie man
längst beobachtet hat) ist eben so sorgfältig ihre Glük-
seligkeit zu verbergen, als jene frostige Liebe, welche
Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig
ist, ihre Siege auszuposaunen. Allein dieses war we-
der die einzige noch die vornehmste Ursache einer Zurük-
haltung, welche unsre Liebenden, aller angewandten
Mühe ungeachtet, einem so scharfsichtigen Beobachter
nicht entziehen konnten. Das Bewußtseyn der Ver-

wandlung

Agathon.
veſtaliſche Tugend foderte) uͤber die ihrigen, wenn ſie
auch bekannt geweſen waͤren, ſehr ſtrenge Urtheile zu
beſorgen gehabt haͤtte.

Allein Hippias war kaum von ſeiner Reiſe zuruͤkge-
kommen, ſo ließ er eine ſeiner erſten Sorgen ſeyn,
ſich in eigner Perſon nach dem Fortgang des Entwurfs
zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzu-
platoniſchen Callias gemeinſchaftlich angelegt hatte. Die
beſondere Vertraulichkeit, worinn er ſeit mehr als zehn
Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das vorzuͤgliche
Recht, ſie auch alsdann zu uͤberraſchen, wenn ſie ſonſt
fuͤr niemand ſichtbar war. Er eilte alſo, ſo bald er
nur konnte, nach ihrem Landgute; und hier brauchte
es nur einen Blik auf unſre Liebende zu werfen, um
zu ſehen, wie viel in ſeiner Abweſenheit mit ihnen
vorgegangen war. Ein gewiſſer Zwang, eine gewiſſe
Zuruͤkhaltung, eine Art von ſchamhafter Schuͤchtern-
heit, welche ihm beſonders an der Pflegtochter Aſpa-
ſiens faſt laͤcherlich vorkam, war das erſte, was ihm
an beyden in die Augen fiel. Wahre Liebe (wie man
laͤngſt beobachtet hat) iſt eben ſo ſorgfaͤltig ihre Gluͤk-
ſeligkeit zu verbergen, als jene froſtige Liebe, welche
Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig
iſt, ihre Siege auszupoſaunen. Allein dieſes war we-
der die einzige noch die vornehmſte Urſache einer Zuruͤk-
haltung, welche unſre Liebenden, aller angewandten
Muͤhe ungeachtet, einem ſo ſcharfſichtigen Beobachter
nicht entziehen konnten. Das Bewußtſeyn der Ver-

wandlung
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[222/0244] Agathon. veſtaliſche Tugend foderte) uͤber die ihrigen, wenn ſie auch bekannt geweſen waͤren, ſehr ſtrenge Urtheile zu beſorgen gehabt haͤtte. Allein Hippias war kaum von ſeiner Reiſe zuruͤkge- kommen, ſo ließ er eine ſeiner erſten Sorgen ſeyn, ſich in eigner Perſon nach dem Fortgang des Entwurfs zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzu- platoniſchen Callias gemeinſchaftlich angelegt hatte. Die beſondere Vertraulichkeit, worinn er ſeit mehr als zehn Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das vorzuͤgliche Recht, ſie auch alsdann zu uͤberraſchen, wenn ſie ſonſt fuͤr niemand ſichtbar war. Er eilte alſo, ſo bald er nur konnte, nach ihrem Landgute; und hier brauchte es nur einen Blik auf unſre Liebende zu werfen, um zu ſehen, wie viel in ſeiner Abweſenheit mit ihnen vorgegangen war. Ein gewiſſer Zwang, eine gewiſſe Zuruͤkhaltung, eine Art von ſchamhafter Schuͤchtern- heit, welche ihm beſonders an der Pflegtochter Aſpa- ſiens faſt laͤcherlich vorkam, war das erſte, was ihm an beyden in die Augen fiel. Wahre Liebe (wie man laͤngſt beobachtet hat) iſt eben ſo ſorgfaͤltig ihre Gluͤk- ſeligkeit zu verbergen, als jene froſtige Liebe, welche Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig iſt, ihre Siege auszupoſaunen. Allein dieſes war we- der die einzige noch die vornehmſte Urſache einer Zuruͤk- haltung, welche unſre Liebenden, aller angewandten Muͤhe ungeachtet, einem ſo ſcharfſichtigen Beobachter nicht entziehen konnten. Das Bewußtſeyn der Ver- wandlung

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/244>, abgerufen am 25.11.2024.