Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünftes Buch, neuntes Capitel.

Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu späte,
daß wir unsern Freund Agathon auf Unkosten seiner schö-
nen Freundin gerechtfertiget haben. Es ist leicht vor-
auszusehen, wie wenig Gnade sie vor dem ehrwürdi-
gen und glüklichen Theil unsrer Leserinnen finden wer-
de, welche sich bereden (und vermuthlich Ursache da-
zu haben) daß sie in ähnlichen Umständen sich ganz
anders als Danae betragen haben würden. Auch find
wir weit davon entfernt, diese allzuzärtliche Nymphe ent-
schuldigen zu wollen, so scheinbar auch immer die Liebe
ihre Vergehungen zu bemänteln weiß. Jndessen bitten
wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, die-
ses Capitel mit einer kleinen Nuzanwendung, auf die
sie sich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, schliessen
zu dürfen. Diese Damen (mit aller Ehrfurcht die wir
ihnen schuldig sind, sey es gesagt) würden sich sehr be-
trügen, wenn sie glaubten, daß wir die Schwachheiten
einer so liebenswürdigen Creatur, als die schöne Danae
ist, nur darum verrathen hätten, damit sie Gelegenheit
bekämen, ihre Eigenliebe daran zu kizeln. Wir sind
in der That nicht so sehr Neulinge in der Welt, daß
wir uns überreden lassen sollten, daß eine jede, welche
sich über das Betragen unsrer Danae ärgern wird, an
ihrer Stelle weiser gewesen wäre. Wir wissen sehr wohl,
daß nicht alles, was das Gepräge der Tugend führt,
würklich ächte und vollhaltige Tugend ist; und daß sechs-
zig Jahre, oder eine Figur, die einen Sylvansatyren
entwafnen könnte, kein oder sehr wenig Recht geben,
sich viel auf eine Tugend zu gut zu thun, welche vielleicht

nie-
[Agath. I. Th.] O
Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel.

Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu ſpaͤte,
daß wir unſern Freund Agathon auf Unkoſten ſeiner ſchoͤ-
nen Freundin gerechtfertiget haben. Es iſt leicht vor-
auszuſehen, wie wenig Gnade ſie vor dem ehrwuͤrdi-
gen und gluͤklichen Theil unſrer Leſerinnen finden wer-
de, welche ſich bereden (und vermuthlich Urſache da-
zu haben) daß ſie in aͤhnlichen Umſtaͤnden ſich ganz
anders als Danae betragen haben wuͤrden. Auch find
wir weit davon entfernt, dieſe allzuzaͤrtliche Nymphe ent-
ſchuldigen zu wollen, ſo ſcheinbar auch immer die Liebe
ihre Vergehungen zu bemaͤnteln weiß. Jndeſſen bitten
wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, die-
ſes Capitel mit einer kleinen Nuzanwendung, auf die
ſie ſich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, ſchlieſſen
zu duͤrfen. Dieſe Damen (mit aller Ehrfurcht die wir
ihnen ſchuldig ſind, ſey es geſagt) wuͤrden ſich ſehr be-
truͤgen, wenn ſie glaubten, daß wir die Schwachheiten
einer ſo liebenswuͤrdigen Creatur, als die ſchoͤne Danae
iſt, nur darum verrathen haͤtten, damit ſie Gelegenheit
bekaͤmen, ihre Eigenliebe daran zu kizeln. Wir ſind
in der That nicht ſo ſehr Neulinge in der Welt, daß
wir uns uͤberreden laſſen ſollten, daß eine jede, welche
ſich uͤber das Betragen unſrer Danae aͤrgern wird, an
ihrer Stelle weiſer geweſen waͤre. Wir wiſſen ſehr wohl,
daß nicht alles, was das Gepraͤge der Tugend fuͤhrt,
wuͤrklich aͤchte und vollhaltige Tugend iſt; und daß ſechs-
zig Jahre, oder eine Figur, die einen Sylvanſatyren
entwafnen koͤnnte, kein oder ſehr wenig Recht geben,
ſich viel auf eine Tugend zu gut zu thun, welche vielleicht

nie-
[Agath. I. Th.] O
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0231" n="209"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Fu&#x0364;nftes Buch, neuntes Capitel.</hi> </fw><lb/>
            <p>Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu &#x017F;pa&#x0364;te,<lb/>
daß wir un&#x017F;ern Freund Agathon auf Unko&#x017F;ten &#x017F;einer &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
nen Freundin gerechtfertiget haben. Es i&#x017F;t leicht vor-<lb/>
auszu&#x017F;ehen, wie wenig Gnade &#x017F;ie vor dem ehrwu&#x0364;rdi-<lb/>
gen und glu&#x0364;klichen Theil un&#x017F;rer Le&#x017F;erinnen finden wer-<lb/>
de, welche &#x017F;ich bereden (und vermuthlich Ur&#x017F;ache da-<lb/>
zu haben) daß &#x017F;ie in a&#x0364;hnlichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden &#x017F;ich ganz<lb/>
anders als Danae betragen haben wu&#x0364;rden. Auch find<lb/>
wir weit davon entfernt, die&#x017F;e allzuza&#x0364;rtliche Nymphe ent-<lb/>
&#x017F;chuldigen zu wollen, &#x017F;o &#x017F;cheinbar auch immer die Liebe<lb/>
ihre Vergehungen zu bema&#x0364;nteln weiß. Jnde&#x017F;&#x017F;en bitten<lb/>
wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, die-<lb/>
&#x017F;es Capitel mit einer kleinen Nuzanwendung, auf die<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en<lb/>
zu du&#x0364;rfen. Die&#x017F;e Damen (mit aller Ehrfurcht die wir<lb/>
ihnen &#x017F;chuldig &#x017F;ind, &#x017F;ey es ge&#x017F;agt) wu&#x0364;rden &#x017F;ich &#x017F;ehr be-<lb/>
tru&#x0364;gen, wenn &#x017F;ie glaubten, daß wir die Schwachheiten<lb/>
einer &#x017F;o liebenswu&#x0364;rdigen Creatur, als die &#x017F;cho&#x0364;ne Danae<lb/>
i&#x017F;t, nur darum verrathen ha&#x0364;tten, damit &#x017F;ie Gelegenheit<lb/>
beka&#x0364;men, ihre Eigenliebe daran zu kizeln. Wir &#x017F;ind<lb/>
in der That nicht &#x017F;o &#x017F;ehr Neulinge in der Welt, daß<lb/>
wir uns u&#x0364;berreden la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollten, daß eine jede, welche<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;ber das Betragen un&#x017F;rer Danae a&#x0364;rgern wird, an<lb/>
ihrer Stelle wei&#x017F;er gewe&#x017F;en wa&#x0364;re. Wir wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ehr wohl,<lb/>
daß nicht alles, was das Gepra&#x0364;ge der Tugend fu&#x0364;hrt,<lb/>
wu&#x0364;rklich a&#x0364;chte und vollhaltige Tugend <hi rendition="#fr">i&#x017F;t;</hi> und daß &#x017F;echs-<lb/>
zig Jahre, oder eine Figur, die einen Sylvan&#x017F;atyren<lb/>
entwafnen ko&#x0364;nnte, kein oder &#x017F;ehr wenig Recht geben,<lb/>
&#x017F;ich viel auf eine Tugend zu gut zu thun, welche vielleicht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">[Agath. <hi rendition="#aq">I.</hi> Th.] O</fw><fw place="bottom" type="catch">nie-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0231] Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel. Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu ſpaͤte, daß wir unſern Freund Agathon auf Unkoſten ſeiner ſchoͤ- nen Freundin gerechtfertiget haben. Es iſt leicht vor- auszuſehen, wie wenig Gnade ſie vor dem ehrwuͤrdi- gen und gluͤklichen Theil unſrer Leſerinnen finden wer- de, welche ſich bereden (und vermuthlich Urſache da- zu haben) daß ſie in aͤhnlichen Umſtaͤnden ſich ganz anders als Danae betragen haben wuͤrden. Auch find wir weit davon entfernt, dieſe allzuzaͤrtliche Nymphe ent- ſchuldigen zu wollen, ſo ſcheinbar auch immer die Liebe ihre Vergehungen zu bemaͤnteln weiß. Jndeſſen bitten wir doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, die- ſes Capitel mit einer kleinen Nuzanwendung, auf die ſie ſich vielleicht nicht gefaßt gemacht haben, ſchlieſſen zu duͤrfen. Dieſe Damen (mit aller Ehrfurcht die wir ihnen ſchuldig ſind, ſey es geſagt) wuͤrden ſich ſehr be- truͤgen, wenn ſie glaubten, daß wir die Schwachheiten einer ſo liebenswuͤrdigen Creatur, als die ſchoͤne Danae iſt, nur darum verrathen haͤtten, damit ſie Gelegenheit bekaͤmen, ihre Eigenliebe daran zu kizeln. Wir ſind in der That nicht ſo ſehr Neulinge in der Welt, daß wir uns uͤberreden laſſen ſollten, daß eine jede, welche ſich uͤber das Betragen unſrer Danae aͤrgern wird, an ihrer Stelle weiſer geweſen waͤre. Wir wiſſen ſehr wohl, daß nicht alles, was das Gepraͤge der Tugend fuͤhrt, wuͤrklich aͤchte und vollhaltige Tugend iſt; und daß ſechs- zig Jahre, oder eine Figur, die einen Sylvanſatyren entwafnen koͤnnte, kein oder ſehr wenig Recht geben, ſich viel auf eine Tugend zu gut zu thun, welche vielleicht nie- [Agath. I. Th.] O

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/231
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/231>, abgerufen am 25.11.2024.