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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
mit Verläugnung des Ruhms, den er vielleicht durch
Verschönerung seiner Charakter, und durch Erhebung
des Natürlichen ins Wunderbare sich hätte erwerben
können, der Natur und Wahrheit in gewissenhaster
Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener
die ganze grenzenlose Welt des Möglichen zu freyem Ge-
brauch vor sich ausgebreitet sieht; wenn seine Dichtun-
gen durch den mächtigen Reiz des Erhabnen und Er-
staunlichen schon sicher genug sind, unsre Einbildungs-
kraft und unsre Eitelkeit auf seine Seite zu bringen; wenn
schon der kleinste Schein von Uebereinstimmung mit der
Natur hinlänglich ist, die Freunde des Wunderbaren,
welche immer die grösseste Zahl ausmachen, von ihrer
Möglichkeit zu überzeugen; ja, wenn er volle Freyheit
hat, die Natur selbst umzuschaffen, und, als ein an-
drer Prometheus, den geschmeidigen Thon, aus wel-
chem er seine Halbgötter und Halbgöttinnen bildet, zu
gestalten wie es ihm beliebt, oder wie es die Absicht, die
er auf uns haben mag, erheischet: So sieht sich hingegen
der arme Geschichtschreiber genöthiget, auf einem engen
Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor
ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegen-
stand so groß oder so klein, so schön oder so häßlich,
wie er ihn würklich sindet, abzumahlen; die Würkun-
gen so anzugeben, wie sie vermöge der unveränderli-
chen Geseze der Natur aus ihren Ursachen herfliessen;
und wenn er seiner Pflicht ein völliges Genügen gethan
hat, sich gefallen zu lassen, daß man seinen Helden
am Ende um wenig oder nichts schäzbarer sindet, als

der

Agathon.
mit Verlaͤugnung des Ruhms, den er vielleicht durch
Verſchoͤnerung ſeiner Charakter, und durch Erhebung
des Natuͤrlichen ins Wunderbare ſich haͤtte erwerben
koͤnnen, der Natur und Wahrheit in gewiſſenhaſter
Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener
die ganze grenzenloſe Welt des Moͤglichen zu freyem Ge-
brauch vor ſich ausgebreitet ſieht; wenn ſeine Dichtun-
gen durch den maͤchtigen Reiz des Erhabnen und Er-
ſtaunlichen ſchon ſicher genug ſind, unſre Einbildungs-
kraft und unſre Eitelkeit auf ſeine Seite zu bringen; wenn
ſchon der kleinſte Schein von Uebereinſtimmung mit der
Natur hinlaͤnglich iſt, die Freunde des Wunderbaren,
welche immer die groͤſſeſte Zahl ausmachen, von ihrer
Moͤglichkeit zu uͤberzeugen; ja, wenn er volle Freyheit
hat, die Natur ſelbſt umzuſchaffen, und, als ein an-
drer Prometheus, den geſchmeidigen Thon, aus wel-
chem er ſeine Halbgoͤtter und Halbgoͤttinnen bildet, zu
geſtalten wie es ihm beliebt, oder wie es die Abſicht, die
er auf uns haben mag, erheiſchet: So ſieht ſich hingegen
der arme Geſchichtſchreiber genoͤthiget, auf einem engen
Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußſtapfen der vor
ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegen-
ſtand ſo groß oder ſo klein, ſo ſchoͤn oder ſo haͤßlich,
wie er ihn wuͤrklich ſindet, abzumahlen; die Wuͤrkun-
gen ſo anzugeben, wie ſie vermoͤge der unveraͤnderli-
chen Geſeze der Natur aus ihren Urſachen herflieſſen;
und wenn er ſeiner Pflicht ein voͤlliges Genuͤgen gethan
hat, ſich gefallen zu laſſen, daß man ſeinen Helden
am Ende um wenig oder nichts ſchaͤzbarer ſindet, als

der
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[196/0218] Agathon. mit Verlaͤugnung des Ruhms, den er vielleicht durch Verſchoͤnerung ſeiner Charakter, und durch Erhebung des Natuͤrlichen ins Wunderbare ſich haͤtte erwerben koͤnnen, der Natur und Wahrheit in gewiſſenhaſter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die ganze grenzenloſe Welt des Moͤglichen zu freyem Ge- brauch vor ſich ausgebreitet ſieht; wenn ſeine Dichtun- gen durch den maͤchtigen Reiz des Erhabnen und Er- ſtaunlichen ſchon ſicher genug ſind, unſre Einbildungs- kraft und unſre Eitelkeit auf ſeine Seite zu bringen; wenn ſchon der kleinſte Schein von Uebereinſtimmung mit der Natur hinlaͤnglich iſt, die Freunde des Wunderbaren, welche immer die groͤſſeſte Zahl ausmachen, von ihrer Moͤglichkeit zu uͤberzeugen; ja, wenn er volle Freyheit hat, die Natur ſelbſt umzuſchaffen, und, als ein an- drer Prometheus, den geſchmeidigen Thon, aus wel- chem er ſeine Halbgoͤtter und Halbgoͤttinnen bildet, zu geſtalten wie es ihm beliebt, oder wie es die Abſicht, die er auf uns haben mag, erheiſchet: So ſieht ſich hingegen der arme Geſchichtſchreiber genoͤthiget, auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußſtapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegen- ſtand ſo groß oder ſo klein, ſo ſchoͤn oder ſo haͤßlich, wie er ihn wuͤrklich ſindet, abzumahlen; die Wuͤrkun- gen ſo anzugeben, wie ſie vermoͤge der unveraͤnderli- chen Geſeze der Natur aus ihren Urſachen herflieſſen; und wenn er ſeiner Pflicht ein voͤlliges Genuͤgen gethan hat, ſich gefallen zu laſſen, daß man ſeinen Helden am Ende um wenig oder nichts ſchaͤzbarer ſindet, als der

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/218>, abgerufen am 25.11.2024.