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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Die Sirenen hörten auf zu singen, und die Musen ant-
worteten ihrer Ausforderung durch eine Symphonie,
welche auszudruken schien, wie gewiß sie sich des Sieges
hielten. Nach und nach verlohr sich die Munterkeit,
die in dieser Symphonie herrschte; ein feyerlicher Ernst
nahm ihren Plaz ein, das Getön wurde immer einför-
miger, bis es nach und nach in ein dunkles gedämpf-
tes Murmeln und zulezt in eine gänzliche Stille er-
starb. Ein allgemeines Erwarten schien dem Erfolg
dieser vorbereitenden Stille entgegen zu horchen, als
es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbro-
chen wurde, welche die geflügelten und seelenvollen Fin-
ger der schönen Danae aus ihrer Laute lokten. Eine
Stimme, welche fähig schien, die Seelen ihren Leibern
zu entführen, und Todte wieder zu beseelen (wenn
wir einen Ausdruk des Liebhabers der schönen Laura
entlehnen dürfen) eine so bezaubernde Stimme beseelte
diese reizende Anrede. Der Jnnhalt des Wettgesangs
war über den Vorzug der Liebe, die sich auf die Em-
pfindung, oder derjenigen, die sich auf die blosse Be-
gierde gründet. Nichts könnte rührender seyn, als
das Gemählde, welches Danae von der ersten Art
der Liebe machte; in solchen Tönen, dacht Agathon,
ganz gewiß in keinen andern, drüken dle Unsterblichen
einander aus, was sie empfinden; nur eine solche Spra-
che ist der Götter würdig. Die ganze Zeit da dieser
Gesang dauerte, däuchte ihn ein Augenblik, und er
wurde ganz unwillig, als Danae auf einmal auf-
hörte, und eine der Sirenen, von den Flöten ihrer

Schwe-

Agathon.
Die Sirenen hoͤrten auf zu ſingen, und die Muſen ant-
worteten ihrer Ausforderung durch eine Symphonie,
welche auszudruken ſchien, wie gewiß ſie ſich des Sieges
hielten. Nach und nach verlohr ſich die Munterkeit,
die in dieſer Symphonie herrſchte; ein feyerlicher Ernſt
nahm ihren Plaz ein, das Getoͤn wurde immer einfoͤr-
miger, bis es nach und nach in ein dunkles gedaͤmpf-
tes Murmeln und zulezt in eine gaͤnzliche Stille er-
ſtarb. Ein allgemeines Erwarten ſchien dem Erfolg
dieſer vorbereitenden Stille entgegen zu horchen, als
es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbro-
chen wurde, welche die gefluͤgelten und ſeelenvollen Fin-
ger der ſchoͤnen Danae aus ihrer Laute lokten. Eine
Stimme, welche faͤhig ſchien, die Seelen ihren Leibern
zu entfuͤhren, und Todte wieder zu beſeelen (wenn
wir einen Ausdruk des Liebhabers der ſchoͤnen Laura
entlehnen duͤrfen) eine ſo bezaubernde Stimme beſeelte
dieſe reizende Anrede. Der Jnnhalt des Wettgeſangs
war uͤber den Vorzug der Liebe, die ſich auf die Em-
pfindung, oder derjenigen, die ſich auf die bloſſe Be-
gierde gruͤndet. Nichts koͤnnte ruͤhrender ſeyn, als
das Gemaͤhlde, welches Danae von der erſten Art
der Liebe machte; in ſolchen Toͤnen, dacht Agathon,
ganz gewiß in keinen andern, druͤken dle Unſterblichen
einander aus, was ſie empfinden; nur eine ſolche Spra-
che iſt der Goͤtter wuͤrdig. Die ganze Zeit da dieſer
Geſang dauerte, daͤuchte ihn ein Augenblik, und er
wurde ganz unwillig, als Danae auf einmal auf-
hoͤrte, und eine der Sirenen, von den Floͤten ihrer

Schwe-
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[192/0214] Agathon. Die Sirenen hoͤrten auf zu ſingen, und die Muſen ant- worteten ihrer Ausforderung durch eine Symphonie, welche auszudruken ſchien, wie gewiß ſie ſich des Sieges hielten. Nach und nach verlohr ſich die Munterkeit, die in dieſer Symphonie herrſchte; ein feyerlicher Ernſt nahm ihren Plaz ein, das Getoͤn wurde immer einfoͤr- miger, bis es nach und nach in ein dunkles gedaͤmpf- tes Murmeln und zulezt in eine gaͤnzliche Stille er- ſtarb. Ein allgemeines Erwarten ſchien dem Erfolg dieſer vorbereitenden Stille entgegen zu horchen, als es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbro- chen wurde, welche die gefluͤgelten und ſeelenvollen Fin- ger der ſchoͤnen Danae aus ihrer Laute lokten. Eine Stimme, welche faͤhig ſchien, die Seelen ihren Leibern zu entfuͤhren, und Todte wieder zu beſeelen (wenn wir einen Ausdruk des Liebhabers der ſchoͤnen Laura entlehnen duͤrfen) eine ſo bezaubernde Stimme beſeelte dieſe reizende Anrede. Der Jnnhalt des Wettgeſangs war uͤber den Vorzug der Liebe, die ſich auf die Em- pfindung, oder derjenigen, die ſich auf die bloſſe Be- gierde gruͤndet. Nichts koͤnnte ruͤhrender ſeyn, als das Gemaͤhlde, welches Danae von der erſten Art der Liebe machte; in ſolchen Toͤnen, dacht Agathon, ganz gewiß in keinen andern, druͤken dle Unſterblichen einander aus, was ſie empfinden; nur eine ſolche Spra- che iſt der Goͤtter wuͤrdig. Die ganze Zeit da dieſer Geſang dauerte, daͤuchte ihn ein Augenblik, und er wurde ganz unwillig, als Danae auf einmal auf- hoͤrte, und eine der Sirenen, von den Floͤten ihrer Schwe-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/214>, abgerufen am 22.11.2024.