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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
rührender, als die Gleichgültigkeit, die ihr Callias ge-
ben will. Und zudem, wo ist die junge Nymphe, die
gegen die Liebe eines so schönen Gottes wie Apollo ist,
gleichgültig seyn könnte? Jch bin deiner Meynung,
sagte Hippias. Daphne flieht vor dem Apollo, weil
sie ein junges Mädchen ist; und weil sie ein junges
Mädchen ist, so wünscht sie heimlich, daß er sie erha-
schen möge. Warum sieht sie sich so oft um, als
um ihm zu verweisen, daß er nicht schneller sey?
Wie er ihr so nahe ist, daß sie nicht mehr
entfltehen kann, so fleht sie dem Flußgotte, daß
er sie verwandeln soll. Grimasse! Warum stürzte sie
sich nicht in den Fluß, wenn es ihr Ernst war? Sie
that was eine Nymphe thun soll, da sie den Flußgott
anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte
auch fürchten, so schnell erhört zu werden? Und in
welchem Augenblik konnte sie es weniger wünschen, als
in eben diesem, da sie sich von den begierigen Armen
ihres Liebhabers schon umschlungen fühlte? Hatte sie
sich denn aus einem andern Grund ausser Athem ge-
loffen, als damit er sie desto gewisser erhaschen möchte?
Was ist also natürlicher als der Unwille, der Schmerz
und die Traurigkeit, womit sie sein Betragen erwie-
dert, da sie die Arme, womit sie ihn -- zurükstossen
will, zu Lorbeerzweigen erstarret fühlt? Selbst der
zärtliche Blik ist natürlich; die Verstellung hört auf,
wenn man in einen Lorbeerbaum verwandelt wird.
War nicht dieses das ganze Spiel der Psyche? Und
kann etwas natürlicher seyn? Es ist der Character

eines

Agathon.
ruͤhrender, als die Gleichguͤltigkeit, die ihr Callias ge-
ben will. Und zudem, wo iſt die junge Nymphe, die
gegen die Liebe eines ſo ſchoͤnen Gottes wie Apollo iſt,
gleichguͤltig ſeyn koͤnnte? Jch bin deiner Meynung,
ſagte Hippias. Daphne flieht vor dem Apollo, weil
ſie ein junges Maͤdchen iſt; und weil ſie ein junges
Maͤdchen iſt, ſo wuͤnſcht ſie heimlich, daß er ſie erha-
ſchen moͤge. Warum ſieht ſie ſich ſo oft um, als
um ihm zu verweiſen, daß er nicht ſchneller ſey?
Wie er ihr ſo nahe iſt, daß ſie nicht mehr
entfltehen kann, ſo fleht ſie dem Flußgotte, daß
er ſie verwandeln ſoll. Grimaſſe! Warum ſtuͤrzte ſie
ſich nicht in den Fluß, wenn es ihr Ernſt war? Sie
that was eine Nymphe thun ſoll, da ſie den Flußgott
anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte
auch fuͤrchten, ſo ſchnell erhoͤrt zu werden? Und in
welchem Augenblik konnte ſie es weniger wuͤnſchen, als
in eben dieſem, da ſie ſich von den begierigen Armen
ihres Liebhabers ſchon umſchlungen fuͤhlte? Hatte ſie
ſich denn aus einem andern Grund auſſer Athem ge-
loffen, als damit er ſie deſto gewiſſer erhaſchen moͤchte?
Was iſt alſo natuͤrlicher als der Unwille, der Schmerz
und die Traurigkeit, womit ſie ſein Betragen erwie-
dert, da ſie die Arme, womit ſie ihn ‒‒ zuruͤkſtoſſen
will, zu Lorbeerzweigen erſtarret fuͤhlt? Selbſt der
zaͤrtliche Blik iſt natuͤrlich; die Verſtellung hoͤrt auf,
wenn man in einen Lorbeerbaum verwandelt wird.
War nicht dieſes das ganze Spiel der Pſyche? Und
kann etwas natuͤrlicher ſeyn? Es iſt der Character

eines
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[158/0180] Agathon. ruͤhrender, als die Gleichguͤltigkeit, die ihr Callias ge- ben will. Und zudem, wo iſt die junge Nymphe, die gegen die Liebe eines ſo ſchoͤnen Gottes wie Apollo iſt, gleichguͤltig ſeyn koͤnnte? Jch bin deiner Meynung, ſagte Hippias. Daphne flieht vor dem Apollo, weil ſie ein junges Maͤdchen iſt; und weil ſie ein junges Maͤdchen iſt, ſo wuͤnſcht ſie heimlich, daß er ſie erha- ſchen moͤge. Warum ſieht ſie ſich ſo oft um, als um ihm zu verweiſen, daß er nicht ſchneller ſey? Wie er ihr ſo nahe iſt, daß ſie nicht mehr entfltehen kann, ſo fleht ſie dem Flußgotte, daß er ſie verwandeln ſoll. Grimaſſe! Warum ſtuͤrzte ſie ſich nicht in den Fluß, wenn es ihr Ernſt war? Sie that was eine Nymphe thun ſoll, da ſie den Flußgott anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte auch fuͤrchten, ſo ſchnell erhoͤrt zu werden? Und in welchem Augenblik konnte ſie es weniger wuͤnſchen, als in eben dieſem, da ſie ſich von den begierigen Armen ihres Liebhabers ſchon umſchlungen fuͤhlte? Hatte ſie ſich denn aus einem andern Grund auſſer Athem ge- loffen, als damit er ſie deſto gewiſſer erhaſchen moͤchte? Was iſt alſo natuͤrlicher als der Unwille, der Schmerz und die Traurigkeit, womit ſie ſein Betragen erwie- dert, da ſie die Arme, womit ſie ihn ‒‒ zuruͤkſtoſſen will, zu Lorbeerzweigen erſtarret fuͤhlt? Selbſt der zaͤrtliche Blik iſt natuͤrlich; die Verſtellung hoͤrt auf, wenn man in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. War nicht dieſes das ganze Spiel der Pſyche? Und kann etwas natuͤrlicher ſeyn? Es iſt der Character eines

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/180>, abgerufen am 24.11.2024.