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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Viertes Buch, fünftes Capitel.
genblik, als er den Namen Psyche hörte; er stokte mit-
ten in einem Worte, das er sagen wollte; er erröthete,
und seine Verwirrung war so merklich, daß Danae,
welche sie der Beschämung seines Tadels zuschrieb, für
nöthig hielt, ihm zu Hülfe zu kommen. Der Tadel
des Callias, sagte sie, beweißt, daß er den Geist, wo-
mit Psyche ihre Rolle gespielt, so gut empfunden hat,
als Phädrias. Aber vielleicht ist er darum nicht min-
der gegründet. Psyche sollte die Person der Daphne ge-
spielt haben, und hat ihre eigene gespielt; ist es nicht
so, Psyche? Du dachtest, wie würde mir's an
Daphnens Stelle gewesen seyn? -- Und wie hätte ichs
anders machen können, meine Gebieterin? fragte die
kleine Tänzerin. "Du hättest den Character annehmen
sollen, den ihr die Dichter geben, und hast dich be-
gnügt dich selbst in ihre Umstände zu sezen." Was für
ein Character ist denn das, erwiederte Psyche. Einer
Spröden, sagte der weise Hippias; das ist der lieb-
lings-Character des Callias. Abermalige Gelegenheit
zum Erröthen für den guten Agathon. Du hast es
nicht errathen, sagte er; der Character, den Daphne
nach meiner Jdee haben soll, ist Gleichgültigkeit und
Unschuld; sie kann beydes haben, ohne eine Spröde zu
seyn. Psyche verdient also desto mehr Lob, erwiederte
Phädrias (für den sie, wie die Geschichte meldet, noch
etwas mehr als eine Tänzerin war) weil sie den Cha-
racter verschönert hat, den sie vorstellen sollte. Der
Streit zwischen Liebe und Ehre erfordert mehr Genie
um nachgeahmt zu werden, und ist für den Zuschauer

rühren-

Viertes Buch, fuͤnftes Capitel.
genblik, als er den Namen Pſyche hoͤrte; er ſtokte mit-
ten in einem Worte, das er ſagen wollte; er erroͤthete,
und ſeine Verwirrung war ſo merklich, daß Danae,
welche ſie der Beſchaͤmung ſeines Tadels zuſchrieb, fuͤr
noͤthig hielt, ihm zu Huͤlfe zu kommen. Der Tadel
des Callias, ſagte ſie, beweißt, daß er den Geiſt, wo-
mit Pſyche ihre Rolle geſpielt, ſo gut empfunden hat,
als Phaͤdrias. Aber vielleicht iſt er darum nicht min-
der gegruͤndet. Pſyche ſollte die Perſon der Daphne ge-
ſpielt haben, und hat ihre eigene geſpielt; iſt es nicht
ſo, Pſyche? Du dachteſt, wie wuͤrde mir’s an
Daphnens Stelle geweſen ſeyn? ‒‒ Und wie haͤtte ichs
anders machen koͤnnen, meine Gebieterin? fragte die
kleine Taͤnzerin. „Du haͤtteſt den Character annehmen
ſollen, den ihr die Dichter geben, und haſt dich be-
gnuͤgt dich ſelbſt in ihre Umſtaͤnde zu ſezen.„ Was fuͤr
ein Character iſt denn das, erwiederte Pſyche. Einer
Sproͤden, ſagte der weiſe Hippias; das iſt der lieb-
lings-Character des Callias. Abermalige Gelegenheit
zum Erroͤthen fuͤr den guten Agathon. Du haſt es
nicht errathen, ſagte er; der Character, den Daphne
nach meiner Jdee haben ſoll, iſt Gleichguͤltigkeit und
Unſchuld; ſie kann beydes haben, ohne eine Sproͤde zu
ſeyn. Pſyche verdient alſo deſto mehr Lob, erwiederte
Phaͤdrias (fuͤr den ſie, wie die Geſchichte meldet, noch
etwas mehr als eine Taͤnzerin war) weil ſie den Cha-
racter verſchoͤnert hat, den ſie vorſtellen ſollte. Der
Streit zwiſchen Liebe und Ehre erfordert mehr Genie
um nachgeahmt zu werden, und iſt fuͤr den Zuſchauer

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[157/0179] Viertes Buch, fuͤnftes Capitel. genblik, als er den Namen Pſyche hoͤrte; er ſtokte mit- ten in einem Worte, das er ſagen wollte; er erroͤthete, und ſeine Verwirrung war ſo merklich, daß Danae, welche ſie der Beſchaͤmung ſeines Tadels zuſchrieb, fuͤr noͤthig hielt, ihm zu Huͤlfe zu kommen. Der Tadel des Callias, ſagte ſie, beweißt, daß er den Geiſt, wo- mit Pſyche ihre Rolle geſpielt, ſo gut empfunden hat, als Phaͤdrias. Aber vielleicht iſt er darum nicht min- der gegruͤndet. Pſyche ſollte die Perſon der Daphne ge- ſpielt haben, und hat ihre eigene geſpielt; iſt es nicht ſo, Pſyche? Du dachteſt, wie wuͤrde mir’s an Daphnens Stelle geweſen ſeyn? ‒‒ Und wie haͤtte ichs anders machen koͤnnen, meine Gebieterin? fragte die kleine Taͤnzerin. „Du haͤtteſt den Character annehmen ſollen, den ihr die Dichter geben, und haſt dich be- gnuͤgt dich ſelbſt in ihre Umſtaͤnde zu ſezen.„ Was fuͤr ein Character iſt denn das, erwiederte Pſyche. Einer Sproͤden, ſagte der weiſe Hippias; das iſt der lieb- lings-Character des Callias. Abermalige Gelegenheit zum Erroͤthen fuͤr den guten Agathon. Du haſt es nicht errathen, ſagte er; der Character, den Daphne nach meiner Jdee haben ſoll, iſt Gleichguͤltigkeit und Unſchuld; ſie kann beydes haben, ohne eine Sproͤde zu ſeyn. Pſyche verdient alſo deſto mehr Lob, erwiederte Phaͤdrias (fuͤr den ſie, wie die Geſchichte meldet, noch etwas mehr als eine Taͤnzerin war) weil ſie den Cha- racter verſchoͤnert hat, den ſie vorſtellen ſollte. Der Streit zwiſchen Liebe und Ehre erfordert mehr Genie um nachgeahmt zu werden, und iſt fuͤr den Zuſchauer ruͤhren-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/179>, abgerufen am 27.11.2024.