Viertes Capitel. Wie gefährlich es ist, der Besizer einer ver- schönernden Einbildungskraft zu seyn.
Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Besizer eine unendliche Menge von Vergnügen gewährt, die den übrigen Sterblichen versagt sind; wenn ihre magi- sche Würkung alles Schöne in seinen Augen verschö- nert, und ihn da in Entzükung sezt, wo andre kaum empfinden; wenn sie in glüklichen Stunden, ihm diese Welt zu einem Paradiese macht, und in traurigen seine Seele von der Scene seines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten versezt, die durch die vergrössernden Schatten einer vollkommnen Wonne seinen Schmerz bezaubern: So müssen wir auf der andern Seite ge- stehen, daß sie nicht weniger eine Quelle von Jrrtü- mern, von Ausschweifungen und von Quaalen für ihn ist, wovon er, selbst mit Beyhülfe der Weisheit und mit der feurigsten Liebe zur Tugend, sich nicht eher loßmachen kann, biß er, auf welche Art es nun seyn mag, so weit gekommen ist, die allzugrosse Leb- haftigkeit derselben zu mäßigen. Der weise Hippias hatte, die Wahrheit zu gestehen, unserm Helden sehr wenig Unrecht gethan, als er ihm eine Einbildungs- kraft von dieser Art zuschrieb; ob wir ihm gleich in Absicht des Mittels nicht völlig beyfallen können, wo- durch selbige, seiner Meynung nach, am besten in das
gehö-
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Viertes Buch, viertes Capitel.
Viertes Capitel. Wie gefaͤhrlich es iſt, der Beſizer einer ver- ſchoͤnernden Einbildungskraft zu ſeyn.
Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Beſizer eine unendliche Menge von Vergnuͤgen gewaͤhrt, die den uͤbrigen Sterblichen verſagt ſind; wenn ihre magi- ſche Wuͤrkung alles Schoͤne in ſeinen Augen verſchoͤ- nert, und ihn da in Entzuͤkung ſezt, wo andre kaum empfinden; wenn ſie in gluͤklichen Stunden, ihm dieſe Welt zu einem Paradieſe macht, und in traurigen ſeine Seele von der Scene ſeines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten verſezt, die durch die vergroͤſſernden Schatten einer vollkommnen Wonne ſeinen Schmerz bezaubern: So muͤſſen wir auf der andern Seite ge- ſtehen, daß ſie nicht weniger eine Quelle von Jrrtuͤ- mern, von Ausſchweifungen und von Quaalen fuͤr ihn iſt, wovon er, ſelbſt mit Beyhuͤlfe der Weisheit und mit der feurigſten Liebe zur Tugend, ſich nicht eher loßmachen kann, biß er, auf welche Art es nun ſeyn mag, ſo weit gekommen iſt, die allzugroſſe Leb- haftigkeit derſelben zu maͤßigen. Der weiſe Hippias hatte, die Wahrheit zu geſtehen, unſerm Helden ſehr wenig Unrecht gethan, als er ihm eine Einbildungs- kraft von dieſer Art zuſchrieb; ob wir ihm gleich in Abſicht des Mittels nicht voͤllig beyfallen koͤnnen, wo- durch ſelbige, ſeiner Meynung nach, am beſten in das
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Viertes Buch, viertes Capitel.
Viertes Capitel.
Wie gefaͤhrlich es iſt, der Beſizer einer ver-
ſchoͤnernden Einbildungskraft zu ſeyn.
Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Beſizer
eine unendliche Menge von Vergnuͤgen gewaͤhrt, die
den uͤbrigen Sterblichen verſagt ſind; wenn ihre magi-
ſche Wuͤrkung alles Schoͤne in ſeinen Augen verſchoͤ-
nert, und ihn da in Entzuͤkung ſezt, wo andre kaum
empfinden; wenn ſie in gluͤklichen Stunden, ihm dieſe Welt
zu einem Paradieſe macht, und in traurigen ſeine Seele
von der Scene ſeines Kummers hinwegzieht, und in
andre Welten verſezt, die durch die vergroͤſſernden
Schatten einer vollkommnen Wonne ſeinen Schmerz
bezaubern: So muͤſſen wir auf der andern Seite ge-
ſtehen, daß ſie nicht weniger eine Quelle von Jrrtuͤ-
mern, von Ausſchweifungen und von Quaalen fuͤr
ihn iſt, wovon er, ſelbſt mit Beyhuͤlfe der Weisheit
und mit der feurigſten Liebe zur Tugend, ſich nicht
eher loßmachen kann, biß er, auf welche Art es nun
ſeyn mag, ſo weit gekommen iſt, die allzugroſſe Leb-
haftigkeit derſelben zu maͤßigen. Der weiſe Hippias
hatte, die Wahrheit zu geſtehen, unſerm Helden ſehr
wenig Unrecht gethan, als er ihm eine Einbildungs-
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/173>, abgerufen am 24.11.2024.
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