Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. könnte, seine Leidenschaft zu vergnügen, ohne sich mitden Gesezen abzuwerfen? Jch sehe, du kennest die Da- men zu Athen und Sparta nicht." O! was das be- trift, ich kenne so gar die Priesterinnen zu Delphi. Aber ists möglich, daß du im Ernste gesprochen hast? "Jch habe nach meinen Grundsäzen gesprochen. Die Geseze haben in gewissen Staaten, (denn es giebt ei- nige, wo sie mehr Nachsicht haben) nöthig gefunden, unser natürliches Recht an eine jede, die unsre Begier- den erregt, einzuschränken. Allein da dieses nur ge- schah, um gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch jenes Rechts in sol- chen Staaten zu besorgen wären, so stehst du, daß der Geist und die Absicht des Gesezes nicht verlezt wird, wenn man vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen", O Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsäze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Nahmen des Nüzlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind; wenn die Geseze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die Hofnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu ver- schwöhren? Was hindert die Mutter, sich selbst und ihre Tochter dem meistbietenden Preiß zu geben? Was hindert
Agathon. koͤnnte, ſeine Leidenſchaft zu vergnuͤgen, ohne ſich mitden Geſezen abzuwerfen? Jch ſehe, du kenneſt die Da- men zu Athen und Sparta nicht.„ O! was das be- trift, ich kenne ſo gar die Prieſterinnen zu Delphi. Aber iſts moͤglich, daß du im Ernſte geſprochen haſt? „Jch habe nach meinen Grundſaͤzen geſprochen. Die Geſeze haben in gewiſſen Staaten, (denn es giebt ei- nige, wo ſie mehr Nachſicht haben) noͤthig gefunden, unſer natuͤrliches Recht an eine jede, die unſre Begier- den erregt, einzuſchraͤnken. Allein da dieſes nur ge- ſchah, um gewiſſe Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungeſcheuten Gebrauch jenes Rechts in ſol- chen Staaten zu beſorgen waͤren, ſo ſtehſt du, daß der Geiſt und die Abſicht des Geſezes nicht verlezt wird, wenn man vorſichtig genug iſt zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen„, O Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du ſieheſt die Folgen deiner Grundſaͤze. Wenn alles an ſich ſelbſt recht iſt, was meine Begierden wollen; wenn die ausſchweifenden Forderungen der Leidenſchaft unter dem Nahmen des Nuͤzlichen, den ſie nicht verdienen, die einzige Richtſchnur unſrer Handlungen ſind; wenn die Geſeze nur mit einer guten Art ausgewichen werden muͤſſen, und im Dunkeln alles erlaubt iſt; wenn die Tugend, und die Hofnungen der Tugend nur Schimaͤren ſind; was hindert die Kinder, ſich wider ihre Eltern zu ver- ſchwoͤhren? Was hindert die Mutter, ſich ſelbſt und ihre Tochter dem meiſtbietenden Preiß zu geben? Was hindert
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Agathon.
koͤnnte, ſeine Leidenſchaft zu vergnuͤgen, ohne ſich mit
den Geſezen abzuwerfen? Jch ſehe, du kenneſt die Da-
men zu Athen und Sparta nicht.„ O! was das be-
trift, ich kenne ſo gar die Prieſterinnen zu Delphi.
Aber iſts moͤglich, daß du im Ernſte geſprochen haſt?
„Jch habe nach meinen Grundſaͤzen geſprochen. Die
Geſeze haben in gewiſſen Staaten, (denn es giebt ei-
nige, wo ſie mehr Nachſicht haben) noͤthig gefunden,
unſer natuͤrliches Recht an eine jede, die unſre Begier-
den erregt, einzuſchraͤnken. Allein da dieſes nur ge-
ſchah, um gewiſſe Ungelegenheiten zu verhindern, die
aus dem ungeſcheuten Gebrauch jenes Rechts in ſol-
chen Staaten zu beſorgen waͤren, ſo ſtehſt du, daß der
Geiſt und die Abſicht des Geſezes nicht verlezt wird,
wenn man vorſichtig genug iſt zu den Ausnahmen die
man davon macht keine Zeugen zu nehmen„, O
Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin
ich dich bringen wollte. Du ſieheſt die Folgen deiner
Grundſaͤze. Wenn alles an ſich ſelbſt recht iſt, was
meine Begierden wollen; wenn die ausſchweifenden
Forderungen der Leidenſchaft unter dem Nahmen
des Nuͤzlichen, den ſie nicht verdienen, die einzige
Richtſchnur unſrer Handlungen ſind; wenn die Geſeze
nur mit einer guten Art ausgewichen werden muͤſſen,
und im Dunkeln alles erlaubt iſt; wenn die Tugend,
und die Hofnungen der Tugend nur Schimaͤren ſind;
was hindert die Kinder, ſich wider ihre Eltern zu ver-
ſchwoͤhren? Was hindert die Mutter, ſich ſelbſt und
ihre Tochter dem meiſtbietenden Preiß zu geben? Was
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