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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
als von ihren Jrrthümern, und nichts zärtlicher lieben
als ihre Fehler; und daß es kein gewisseres Mittel giebt
sich ihren Abscheu zuzuziehen, als weun man ihnen ei-
ne Wahrheit entdekt, die sie nicht wissen wollen. Weit
entfernt also, ihnen die Augen wider ihren Willen zu
eröfnen, oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, der
ihnen ihre Häßlichkeit vorrükte, bestärkt er die Thoren
in dem Gedanken, daß nichts abgeschmakter sey als Ver-
stand haben, den Verschwender in dem Wahn, daß er
großmüthig, den Kniker in den Gedanken, daß er ein
guter Haushalter, die Häßliche in der süssen Einbildung,
daß sie desto geistreicher, und den Reichen in der Ueber-
redung, daß er ein Staatsmann, ein Gelehrter, ein
Held, ein Gönner der Musen und ein Liebling der Da-
men sey. Er bewundert das System des Philosophen,
die einbildische Unwissenheit des Hofmanns, und die
grossen Thaten des Generals; er gestehet dem Tanz-
meister ohne Widerrede zu, daß Cimon der gröste Mann
in Griechenland gewesen wäre, wenn er die Füsse bes-
ser zu sezen gewußt hätte; und dem Mahler, daß man
mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu seyn.
Diese Art mit den Menschen umzugehen, ist von un-
endlich grösserm Vortheil als man beym ersten Anblik
denken möchte. Sie erwirbt ihm ihre Liebe, ihr Zu-
trauen, und eine desto grössere Meynung von seinen Ver-
dienste, je grösser diejenige ist, die er von den ihrigen
zu haben scheint. Sie ist das gewisseste Mittel, zu den
höchsten Stufen des Glüks empor zu steigen. Meynest
du, daß es allein die grösten Talente, die vorzüglich-

sten

Agathon.
als von ihren Jrrthuͤmern, und nichts zaͤrtlicher lieben
als ihre Fehler; und daß es kein gewiſſeres Mittel giebt
ſich ihren Abſcheu zuzuziehen, als weun man ihnen ei-
ne Wahrheit entdekt, die ſie nicht wiſſen wollen. Weit
entfernt alſo, ihnen die Augen wider ihren Willen zu
eroͤfnen, oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, der
ihnen ihre Haͤßlichkeit vorruͤkte, beſtaͤrkt er die Thoren
in dem Gedanken, daß nichts abgeſchmakter ſey als Ver-
ſtand haben, den Verſchwender in dem Wahn, daß er
großmuͤthig, den Kniker in den Gedanken, daß er ein
guter Haushalter, die Haͤßliche in der ſuͤſſen Einbildung,
daß ſie deſto geiſtreicher, und den Reichen in der Ueber-
redung, daß er ein Staatsmann, ein Gelehrter, ein
Held, ein Goͤnner der Muſen und ein Liebling der Da-
men ſey. Er bewundert das Syſtem des Philoſophen,
die einbildiſche Unwiſſenheit des Hofmanns, und die
groſſen Thaten des Generals; er geſtehet dem Tanz-
meiſter ohne Widerrede zu, daß Cimon der groͤſte Mann
in Griechenland geweſen waͤre, wenn er die Fuͤſſe beſ-
ſer zu ſezen gewußt haͤtte; und dem Mahler, daß man
mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu ſeyn.
Dieſe Art mit den Menſchen umzugehen, iſt von un-
endlich groͤſſerm Vortheil als man beym erſten Anblik
denken moͤchte. Sie erwirbt ihm ihre Liebe, ihr Zu-
trauen, und eine deſto groͤſſere Meynung von ſeinen Ver-
dienſte, je groͤſſer diejenige iſt, die er von den ihrigen
zu haben ſcheint. Sie iſt das gewiſſeſte Mittel, zu den
hoͤchſten Stufen des Gluͤks empor zu ſteigen. Meyneſt
du, daß es allein die groͤſten Talente, die vorzuͤglich-

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[120/0142] Agathon. als von ihren Jrrthuͤmern, und nichts zaͤrtlicher lieben als ihre Fehler; und daß es kein gewiſſeres Mittel giebt ſich ihren Abſcheu zuzuziehen, als weun man ihnen ei- ne Wahrheit entdekt, die ſie nicht wiſſen wollen. Weit entfernt alſo, ihnen die Augen wider ihren Willen zu eroͤfnen, oder ihnen einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen ihre Haͤßlichkeit vorruͤkte, beſtaͤrkt er die Thoren in dem Gedanken, daß nichts abgeſchmakter ſey als Ver- ſtand haben, den Verſchwender in dem Wahn, daß er großmuͤthig, den Kniker in den Gedanken, daß er ein guter Haushalter, die Haͤßliche in der ſuͤſſen Einbildung, daß ſie deſto geiſtreicher, und den Reichen in der Ueber- redung, daß er ein Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Goͤnner der Muſen und ein Liebling der Da- men ſey. Er bewundert das Syſtem des Philoſophen, die einbildiſche Unwiſſenheit des Hofmanns, und die groſſen Thaten des Generals; er geſtehet dem Tanz- meiſter ohne Widerrede zu, daß Cimon der groͤſte Mann in Griechenland geweſen waͤre, wenn er die Fuͤſſe beſ- ſer zu ſezen gewußt haͤtte; und dem Mahler, daß man mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu ſeyn. Dieſe Art mit den Menſchen umzugehen, iſt von un- endlich groͤſſerm Vortheil als man beym erſten Anblik denken moͤchte. Sie erwirbt ihm ihre Liebe, ihr Zu- trauen, und eine deſto groͤſſere Meynung von ſeinen Ver- dienſte, je groͤſſer diejenige iſt, die er von den ihrigen zu haben ſcheint. Sie iſt das gewiſſeſte Mittel, zu den hoͤchſten Stufen des Gluͤks empor zu ſteigen. Meyneſt du, daß es allein die groͤſten Talente, die vorzuͤglich- ſten

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/142>, abgerufen am 23.11.2024.