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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, fünftes Capitel.
Regierungsform, die Religion, das eigne Tempera-
ment und der National-Character eines jeden Volks,
seine Lebensart, seine Stärke oder Schwäche, seine Ar-
muth oder sein Reichthum, bestimmen seine Begriffe
von dem, was ihm gut oder schädlich ist; daher diese
unendliche Verschiedenheit des Rechts oder Unrechts
unter den policirtesten Nationen; daher der Contrast
der Moral der glühenden Zonen mit der Moral der
kalten Länder, der Moral der freyen Staaten mit der
Moral der despotischen Reiche; der Moral einer armen
Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist ge-
winnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren
Wohlstand dem Geist der Handelschaft und dem Frie-
den zu danken hat; daher endlich die Albernheit der
Moralisten, welche sich den Kopf zerbrechen, um zu
bestimmen, was für alle Nationen recht sey, ehe sie
die Auflösung der Aufgabe gefunden haben, wie man
machen könne, daß eben dasselbe für alle Nationen gleich
nüzlich sey.

Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf
abstracte Jdeen, sondern auf die Natur und würkliche
Beschaffenheit der Dinge gründet, finden die Menschen
an einem jeden Ort, so, wie sie seyn können. Sie
schäzen einen Staatsmann zu Athen, an sich selbst,
nicht höher als einen Gaukler zu Persepolis, und eine
ehrbare Matrone von Sparta ist in ihren Augen kein
vortreflicheres Wesen als eine Lais zu Corinth. Es ist
wahr, der Gaukler würde zu Athen, und die Lais zu
Sparta schädlich seyn; allein ein Aristides würde zu

Perse-
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Drittes Buch, fuͤnftes Capitel.
Regierungsform, die Religion, das eigne Tempera-
ment und der National-Character eines jeden Volks,
ſeine Lebensart, ſeine Staͤrke oder Schwaͤche, ſeine Ar-
muth oder ſein Reichthum, beſtimmen ſeine Begriffe
von dem, was ihm gut oder ſchaͤdlich iſt; daher dieſe
unendliche Verſchiedenheit des Rechts oder Unrechts
unter den policirteſten Nationen; daher der Contraſt
der Moral der gluͤhenden Zonen mit der Moral der
kalten Laͤnder, der Moral der freyen Staaten mit der
Moral der deſpotiſchen Reiche; der Moral einer armen
Republik, welche nur durch den kriegeriſchen Geiſt ge-
winnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren
Wohlſtand dem Geiſt der Handelſchaft und dem Frie-
den zu danken hat; daher endlich die Albernheit der
Moraliſten, welche ſich den Kopf zerbrechen, um zu
beſtimmen, was fuͤr alle Nationen recht ſey, ehe ſie
die Aufloͤſung der Aufgabe gefunden haben, wie man
machen koͤnne, daß eben daſſelbe fuͤr alle Nationen gleich
nuͤzlich ſey.

Die Sophiſten, deren Sittenlehre ſich nicht auf
abſtracte Jdeen, ſondern auf die Natur und wuͤrkliche
Beſchaffenheit der Dinge gruͤndet, finden die Menſchen
an einem jeden Ort, ſo, wie ſie ſeyn koͤnnen. Sie
ſchaͤzen einen Staatsmann zu Athen, an ſich ſelbſt,
nicht hoͤher als einen Gaukler zu Perſepolis, und eine
ehrbare Matrone von Sparta iſt in ihren Augen kein
vortreflicheres Weſen als eine Lais zu Corinth. Es iſt
wahr, der Gaukler wuͤrde zu Athen, und die Lais zu
Sparta ſchaͤdlich ſeyn; allein ein Ariſtides wuͤrde zu

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[117/0139] Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. Regierungsform, die Religion, das eigne Tempera- ment und der National-Character eines jeden Volks, ſeine Lebensart, ſeine Staͤrke oder Schwaͤche, ſeine Ar- muth oder ſein Reichthum, beſtimmen ſeine Begriffe von dem, was ihm gut oder ſchaͤdlich iſt; daher dieſe unendliche Verſchiedenheit des Rechts oder Unrechts unter den policirteſten Nationen; daher der Contraſt der Moral der gluͤhenden Zonen mit der Moral der kalten Laͤnder, der Moral der freyen Staaten mit der Moral der deſpotiſchen Reiche; der Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegeriſchen Geiſt ge- winnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlſtand dem Geiſt der Handelſchaft und dem Frie- den zu danken hat; daher endlich die Albernheit der Moraliſten, welche ſich den Kopf zerbrechen, um zu beſtimmen, was fuͤr alle Nationen recht ſey, ehe ſie die Aufloͤſung der Aufgabe gefunden haben, wie man machen koͤnne, daß eben daſſelbe fuͤr alle Nationen gleich nuͤzlich ſey. Die Sophiſten, deren Sittenlehre ſich nicht auf abſtracte Jdeen, ſondern auf die Natur und wuͤrkliche Beſchaffenheit der Dinge gruͤndet, finden die Menſchen an einem jeden Ort, ſo, wie ſie ſeyn koͤnnen. Sie ſchaͤzen einen Staatsmann zu Athen, an ſich ſelbſt, nicht hoͤher als einen Gaukler zu Perſepolis, und eine ehrbare Matrone von Sparta iſt in ihren Augen kein vortreflicheres Weſen als eine Lais zu Corinth. Es iſt wahr, der Gaukler wuͤrde zu Athen, und die Lais zu Sparta ſchaͤdlich ſeyn; allein ein Ariſtides wuͤrde zu Perſe- H 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/139>, abgerufen am 27.11.2024.