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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
auflösen läßt; bey gewissen Völkern die jenseits des Gan-
ges wohnen, ist ein Mädchen desto vorzüglicher, je
mehr es Liebhaber gehabt hat, die seine Reizungen
aus Erfahrung anzurühmen wissen. Diese Verschieden-
heit der Begriffe vom sittlichen Schönen zeigt sich nicht
nur in besondern Gebräuchen und Gewohnheiten ver-
schiedner Völker, wovon sich die Beyspiele ins Unend-
liche häufen liessen; sondern selbst in dem Begriff, den
sie sich überhaupt von der Tugend machen. Bey den
Römern ist Tugend und Tapferkeit einerley; bey den
Atheniensern schließt dieses Wort alle Arten von nüzli-
chen und angenehmen Eigenschaften in sich. Zu Spar-
ta kennt man keine andre Tugend als den Gehorsam
gegen die Geseze; in despotischen Neichen keine andre,
als die sclavische Unterthänigkeit gegen den Monarchen
und seine Satrapen; am caspischen Meere ist der tu-
genhafteste der am besten rauben kann, und die meisten
Feinde erschlagen hat; und in dem wärmsten Striche
von Jndien hat nur der die höchste Tugend erreicht,
der sich durch eine völlige Unthätigkeit, ihrer Mey-
nung nach, den Göttern ähnlich macht. Was folget
nun aus allen diesen Beyspielen? Jst nichts an sich
selbst schön oder recht? Giebt es kein gewisses Mo-
dell, wornach dasjenige, was schön oder sittlich ist,
beurtheilt werden muß? Wir wollen sehen. Weun
ein solches Modell ist, so muß es in der Natur seyn.
Denn es wäre Thorheit, sich einzubilden, daß ein
Pygmalion eine Bildsäule schnizen könne, welche schö-
ner sey als Phryne, die kühn genug war, bey den

Olym-

Agathon.
aufloͤſen laͤßt; bey gewiſſen Voͤlkern die jenſeits des Gan-
ges wohnen, iſt ein Maͤdchen deſto vorzuͤglicher, je
mehr es Liebhaber gehabt hat, die ſeine Reizungen
aus Erfahrung anzuruͤhmen wiſſen. Dieſe Verſchieden-
heit der Begriffe vom ſittlichen Schoͤnen zeigt ſich nicht
nur in beſondern Gebraͤuchen und Gewohnheiten ver-
ſchiedner Voͤlker, wovon ſich die Beyſpiele ins Unend-
liche haͤufen lieſſen; ſondern ſelbſt in dem Begriff, den
ſie ſich uͤberhaupt von der Tugend machen. Bey den
Roͤmern iſt Tugend und Tapferkeit einerley; bey den
Athenienſern ſchließt dieſes Wort alle Arten von nuͤzli-
chen und angenehmen Eigenſchaften in ſich. Zu Spar-
ta kennt man keine andre Tugend als den Gehorſam
gegen die Geſeze; in deſpotiſchen Neichen keine andre,
als die ſclaviſche Unterthaͤnigkeit gegen den Monarchen
und ſeine Satrapen; am caſpiſchen Meere iſt der tu-
genhafteſte der am beſten rauben kann, und die meiſten
Feinde erſchlagen hat; und in dem waͤrmſten Striche
von Jndien hat nur der die hoͤchſte Tugend erreicht,
der ſich durch eine voͤllige Unthaͤtigkeit, ihrer Mey-
nung nach, den Goͤttern aͤhnlich macht. Was folget
nun aus allen dieſen Beyſpielen? Jſt nichts an ſich
ſelbſt ſchoͤn oder recht? Giebt es kein gewiſſes Mo-
dell, wornach dasjenige, was ſchoͤn oder ſittlich iſt,
beurtheilt werden muß? Wir wollen ſehen. Weun
ein ſolches Modell iſt, ſo muß es in der Natur ſeyn.
Denn es waͤre Thorheit, ſich einzubilden, daß ein
Pygmalion eine Bildſaͤule ſchnizen koͤnne, welche ſchoͤ-
ner ſey als Phryne, die kuͤhn genug war, bey den

Olym-
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[112/0134] Agathon. aufloͤſen laͤßt; bey gewiſſen Voͤlkern die jenſeits des Gan- ges wohnen, iſt ein Maͤdchen deſto vorzuͤglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die ſeine Reizungen aus Erfahrung anzuruͤhmen wiſſen. Dieſe Verſchieden- heit der Begriffe vom ſittlichen Schoͤnen zeigt ſich nicht nur in beſondern Gebraͤuchen und Gewohnheiten ver- ſchiedner Voͤlker, wovon ſich die Beyſpiele ins Unend- liche haͤufen lieſſen; ſondern ſelbſt in dem Begriff, den ſie ſich uͤberhaupt von der Tugend machen. Bey den Roͤmern iſt Tugend und Tapferkeit einerley; bey den Athenienſern ſchließt dieſes Wort alle Arten von nuͤzli- chen und angenehmen Eigenſchaften in ſich. Zu Spar- ta kennt man keine andre Tugend als den Gehorſam gegen die Geſeze; in deſpotiſchen Neichen keine andre, als die ſclaviſche Unterthaͤnigkeit gegen den Monarchen und ſeine Satrapen; am caſpiſchen Meere iſt der tu- genhafteſte der am beſten rauben kann, und die meiſten Feinde erſchlagen hat; und in dem waͤrmſten Striche von Jndien hat nur der die hoͤchſte Tugend erreicht, der ſich durch eine voͤllige Unthaͤtigkeit, ihrer Mey- nung nach, den Goͤttern aͤhnlich macht. Was folget nun aus allen dieſen Beyſpielen? Jſt nichts an ſich ſelbſt ſchoͤn oder recht? Giebt es kein gewiſſes Mo- dell, wornach dasjenige, was ſchoͤn oder ſittlich iſt, beurtheilt werden muß? Wir wollen ſehen. Weun ein ſolches Modell iſt, ſo muß es in der Natur ſeyn. Denn es waͤre Thorheit, ſich einzubilden, daß ein Pygmalion eine Bildſaͤule ſchnizen koͤnne, welche ſchoͤ- ner ſey als Phryne, die kuͤhn genug war, bey den Olym-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/134>, abgerufen am 27.11.2024.