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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, viertes Capitel.
keit, sich der verborgensten Zugänge seines Herzens zu
versichern, seine Leidenschaften, je nachdem wir es nö-
thig finden, zu erregen, zu liebkosen, eine durch die
andre zu verstärken, oder zu schwächen, oder gar zu un-
terdruken; sie erfodert eine Gefälligkeit, die von den
Sittenlehrern Schmeicheley genennt wird, aber diesen
Namen nur alsdann verdient, wenn sie von den Gua-
thonen die um die Tafeln der Reichen sumsen, nachge-
äffet wird, -- eine Gefälligkeit, die aus einer tiefen
Kenntniß der Menschen entspringt, und das Gegentheil
von der lächerlichen Sprödigkeit gewisser Phantasten ist,
die den Menschen übel nehmen, daß sie anders sind,
als wie diese ungebetenen Gesezgeber es haben wol-
len; kurz, diejenige Gefälligkeit ohne welche es vielleicht
möglich ist, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der
Menschen zu erlangen; weil wir nur diejenigen lieben
können, die uns ähnlich sind, die unsern Geschmak
haben oder zu haben scheinen, und so eifrig sind, un-
ser Vergnügen zu befördern, daß sie hierinn die Aspa-
sia von Milet zum Muster nehmen, welche sich bis ans
Ende in der Gunst des Perikles erhielt, indem sie in
demjenigen Alter, worinn man die Seele der Damen
zu lieben pflegt, sich in die Grenzen der Platonischen
Liebe zurükzog, und die Rolle des Körpers durch andre
spielen ließ. Jch lese in deinen Augen Callias, was
du gegen diese Künste einzuwenden hast, die sich so übel
mit den Vorurtheilen vertragen, die du gewohnt bist
für Grundsaze zu halten. Es ist wahr, die Kunst zu
leben, welche die Sophisten lehren, ist auf ganz andre

Be-

Drittes Buch, viertes Capitel.
keit, ſich der verborgenſten Zugaͤnge ſeines Herzens zu
verſichern, ſeine Leidenſchaften, je nachdem wir es noͤ-
thig finden, zu erregen, zu liebkoſen, eine durch die
andre zu verſtaͤrken, oder zu ſchwaͤchen, oder gar zu un-
terdruken; ſie erfodert eine Gefaͤlligkeit, die von den
Sittenlehrern Schmeicheley genennt wird, aber dieſen
Namen nur alsdann verdient, wenn ſie von den Gua-
thonen die um die Tafeln der Reichen ſumſen, nachge-
aͤffet wird, ‒‒ eine Gefaͤlligkeit, die aus einer tiefen
Kenntniß der Menſchen entſpringt, und das Gegentheil
von der laͤcherlichen Sproͤdigkeit gewiſſer Phantaſten iſt,
die den Menſchen uͤbel nehmen, daß ſie anders ſind,
als wie dieſe ungebetenen Geſezgeber es haben wol-
len; kurz, diejenige Gefaͤlligkeit ohne welche es vielleicht
moͤglich iſt, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der
Menſchen zu erlangen; weil wir nur diejenigen lieben
koͤnnen, die uns aͤhnlich ſind, die unſern Geſchmak
haben oder zu haben ſcheinen, und ſo eifrig ſind, un-
ſer Vergnuͤgen zu befoͤrdern, daß ſie hierinn die Aſpa-
ſia von Milet zum Muſter nehmen, welche ſich bis ans
Ende in der Gunſt des Perikles erhielt, indem ſie in
demjenigen Alter, worinn man die Seele der Damen
zu lieben pflegt, ſich in die Grenzen der Platoniſchen
Liebe zuruͤkzog, und die Rolle des Koͤrpers durch andre
ſpielen ließ. Jch leſe in deinen Augen Callias, was
du gegen dieſe Kuͤnſte einzuwenden haſt, die ſich ſo uͤbel
mit den Vorurtheilen vertragen, die du gewohnt biſt
fuͤr Grundſaze zu halten. Es iſt wahr, die Kunſt zu
leben, welche die Sophiſten lehren, iſt auf ganz andre

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[109/0131] Drittes Buch, viertes Capitel. keit, ſich der verborgenſten Zugaͤnge ſeines Herzens zu verſichern, ſeine Leidenſchaften, je nachdem wir es noͤ- thig finden, zu erregen, zu liebkoſen, eine durch die andre zu verſtaͤrken, oder zu ſchwaͤchen, oder gar zu un- terdruken; ſie erfodert eine Gefaͤlligkeit, die von den Sittenlehrern Schmeicheley genennt wird, aber dieſen Namen nur alsdann verdient, wenn ſie von den Gua- thonen die um die Tafeln der Reichen ſumſen, nachge- aͤffet wird, ‒‒ eine Gefaͤlligkeit, die aus einer tiefen Kenntniß der Menſchen entſpringt, und das Gegentheil von der laͤcherlichen Sproͤdigkeit gewiſſer Phantaſten iſt, die den Menſchen uͤbel nehmen, daß ſie anders ſind, als wie dieſe ungebetenen Geſezgeber es haben wol- len; kurz, diejenige Gefaͤlligkeit ohne welche es vielleicht moͤglich iſt, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der Menſchen zu erlangen; weil wir nur diejenigen lieben koͤnnen, die uns aͤhnlich ſind, die unſern Geſchmak haben oder zu haben ſcheinen, und ſo eifrig ſind, un- ſer Vergnuͤgen zu befoͤrdern, daß ſie hierinn die Aſpa- ſia von Milet zum Muſter nehmen, welche ſich bis ans Ende in der Gunſt des Perikles erhielt, indem ſie in demjenigen Alter, worinn man die Seele der Damen zu lieben pflegt, ſich in die Grenzen der Platoniſchen Liebe zuruͤkzog, und die Rolle des Koͤrpers durch andre ſpielen ließ. Jch leſe in deinen Augen Callias, was du gegen dieſe Kuͤnſte einzuwenden haſt, die ſich ſo uͤbel mit den Vorurtheilen vertragen, die du gewohnt biſt fuͤr Grundſaze zu halten. Es iſt wahr, die Kunſt zu leben, welche die Sophiſten lehren, iſt auf ganz andre Be-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/131>, abgerufen am 24.11.2024.