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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
im Stand ist, die Zuhörer, wer sie auch seyn mögen,
von allem zu überreden, was wir wollen, und in jeden
Grad einer jeden Leidenschaft zu sezen, die zu unsrer
Absicht nöthig ist; eine solche Beredsamkeit ist unstrei-
tig ein unentbehrliches Werkzeug, und das vornehmste
wodurch die Sophisten diesen Zwek erreichen. Die
Grammatici bemühen sich, junge Leute zu Rednern zu
bilden; die Sophisten thun mehr, sie lehren sie Ueber-
reder zu werden, wenn mir dieses Wort erlaubt ist.
Hierinn allein besteht das Erhabne einer Kunst, die
vielleicht noch niemand in dem Grade besessen hat, wie
Alcibiades, der in unsern Zeiten so viel Aufsehens ge-
macht hat. Der Weise bedient sich dieser Ueberredungs-
Gabe nur als eines Werkzeugs zu höhern Absichten.
Alcibiades überläßt es einem Antiphon, sich mit Aus-
feilung einer künstlichgesezten Rede zu bemühen; er
überredet indessen seine Landsleute, daß ein so liebens-
würdiger Mann wie Alcibiades das Recht habe zu thun,
was ihm einfalle; er überredet die Spartaner zu ver-
gessen, daß er ihr Feind gewesen, und daß er es bey
der ersten Gelegenheit wieder seyn wird; er überredet
die Königin Timea, daß sie ihn bey sich schlafen lasse,
und die Satrapen des großen Königs, daß er ihnen
die Athenienser zu eben der Zeit verrathen wolle, da
er die Athenienser überredet, daß sie ihm Unrecht thun,
ihn für einen Verräther zu halten. Diese Ueberre-
dungskraft sezt die Geschiklichkeit voraus, jede Gestalt
anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefällig werden
können, auf den wir Absichten haben; die Geschiklich-

keit,

Agathon.
im Stand iſt, die Zuhoͤrer, wer ſie auch ſeyn moͤgen,
von allem zu uͤberreden, was wir wollen, und in jeden
Grad einer jeden Leidenſchaft zu ſezen, die zu unſrer
Abſicht noͤthig iſt; eine ſolche Beredſamkeit iſt unſtrei-
tig ein unentbehrliches Werkzeug, und das vornehmſte
wodurch die Sophiſten dieſen Zwek erreichen. Die
Grammatici bemuͤhen ſich, junge Leute zu Rednern zu
bilden; die Sophiſten thun mehr, ſie lehren ſie Ueber-
reder zu werden, wenn mir dieſes Wort erlaubt iſt.
Hierinn allein beſteht das Erhabne einer Kunſt, die
vielleicht noch niemand in dem Grade beſeſſen hat, wie
Alcibiades, der in unſern Zeiten ſo viel Aufſehens ge-
macht hat. Der Weiſe bedient ſich dieſer Ueberredungs-
Gabe nur als eines Werkzeugs zu hoͤhern Abſichten.
Alcibiades uͤberlaͤßt es einem Antiphon, ſich mit Aus-
feilung einer kuͤnſtlichgeſezten Rede zu bemuͤhen; er
uͤberredet indeſſen ſeine Landsleute, daß ein ſo liebens-
wuͤrdiger Mann wie Alcibiades das Recht habe zu thun,
was ihm einfalle; er uͤberredet die Spartaner zu ver-
geſſen, daß er ihr Feind geweſen, und daß er es bey
der erſten Gelegenheit wieder ſeyn wird; er uͤberredet
die Koͤnigin Timea, daß ſie ihn bey ſich ſchlafen laſſe,
und die Satrapen des großen Koͤnigs, daß er ihnen
die Athenienſer zu eben der Zeit verrathen wolle, da
er die Athenienſer uͤberredet, daß ſie ihm Unrecht thun,
ihn fuͤr einen Verraͤther zu halten. Dieſe Ueberre-
dungskraft ſezt die Geſchiklichkeit voraus, jede Geſtalt
anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefaͤllig werden
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[108/0130] Agathon. im Stand iſt, die Zuhoͤrer, wer ſie auch ſeyn moͤgen, von allem zu uͤberreden, was wir wollen, und in jeden Grad einer jeden Leidenſchaft zu ſezen, die zu unſrer Abſicht noͤthig iſt; eine ſolche Beredſamkeit iſt unſtrei- tig ein unentbehrliches Werkzeug, und das vornehmſte wodurch die Sophiſten dieſen Zwek erreichen. Die Grammatici bemuͤhen ſich, junge Leute zu Rednern zu bilden; die Sophiſten thun mehr, ſie lehren ſie Ueber- reder zu werden, wenn mir dieſes Wort erlaubt iſt. Hierinn allein beſteht das Erhabne einer Kunſt, die vielleicht noch niemand in dem Grade beſeſſen hat, wie Alcibiades, der in unſern Zeiten ſo viel Aufſehens ge- macht hat. Der Weiſe bedient ſich dieſer Ueberredungs- Gabe nur als eines Werkzeugs zu hoͤhern Abſichten. Alcibiades uͤberlaͤßt es einem Antiphon, ſich mit Aus- feilung einer kuͤnſtlichgeſezten Rede zu bemuͤhen; er uͤberredet indeſſen ſeine Landsleute, daß ein ſo liebens- wuͤrdiger Mann wie Alcibiades das Recht habe zu thun, was ihm einfalle; er uͤberredet die Spartaner zu ver- geſſen, daß er ihr Feind geweſen, und daß er es bey der erſten Gelegenheit wieder ſeyn wird; er uͤberredet die Koͤnigin Timea, daß ſie ihn bey ſich ſchlafen laſſe, und die Satrapen des großen Koͤnigs, daß er ihnen die Athenienſer zu eben der Zeit verrathen wolle, da er die Athenienſer uͤberredet, daß ſie ihm Unrecht thun, ihn fuͤr einen Verraͤther zu halten. Dieſe Ueberre- dungskraft ſezt die Geſchiklichkeit voraus, jede Geſtalt anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefaͤllig werden koͤnnen, auf den wir Abſichten haben; die Geſchiklich- keit,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/130>, abgerufen am 24.11.2024.