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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
die man uns vorschreibt, um zu der geheimnißvollen
Glükseligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige auf-
opfern sollen, die uns die Natur und unsre Sinnen an-
bieten? Wir sollen uns den sichtbaren Dingen entzie-
hen, um die unsichtbaren zu sehen; wir sollen aufhören
zu empfinden, damit wir desto lebhafter phantasiren
können. Verstopfet eure Sinnen, sagen sie, so werdet
ihr Dinge sehen und hören, wovon diese thierischen
Menschen, die gleich dem Vieh mit den Augen sehen,
und mit den Ohren hören, sich keinen Begriff machen
können. Eine vortrefliche Diät, in Wahrheit; die
Schüler des Hippokrates werden dir beweisen, daß man
keine bessere erfinden kann, um wahnwizig zu werden.
Es scheint also sehr wahrscheinlich, daß alle diese Gei-
ster, diese Welten, welche sie bewohnen, und diese
Glükseligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen
zu theilen hoft, nicht mehr Wahrheit haben, als die
Nymphen, die Liebesgötter und die Grazien der Dichter,
als die Gärten der Hesperiden und die Jnseln der Cir-
ce und Calypso; kurz, als alle diese Spiele der Ein-
bildungskraft, welche uns belustigen, ohne daß wir sie
für würklich halten. Die Religion unsrer Väter be-
fiehlt uns einen Jupiter, eine Venus zu glauben; ganz
gut; aber was für eine Vorstellung macht man uns
von ihnen? Jupiter soll ein GOtt, Venus eine Göt-
tin seyn: Allein der Jupiter des Phidias ist nichts
mehr als ein heroischer Mann, noch die Venus des
Praxiteles mehr als ein schönes Weib; von dem Gott
und der Göttin hat kein Mensch in Griechenland den

minde-

Agathon,
die man uns vorſchreibt, um zu der geheimnißvollen
Gluͤkſeligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige auf-
opfern ſollen, die uns die Natur und unſre Sinnen an-
bieten? Wir ſollen uns den ſichtbaren Dingen entzie-
hen, um die unſichtbaren zu ſehen; wir ſollen aufhoͤren
zu empfinden, damit wir deſto lebhafter phantaſiren
koͤnnen. Verſtopfet eure Sinnen, ſagen ſie, ſo werdet
ihr Dinge ſehen und hoͤren, wovon dieſe thieriſchen
Menſchen, die gleich dem Vieh mit den Augen ſehen,
und mit den Ohren hoͤren, ſich keinen Begriff machen
koͤnnen. Eine vortrefliche Diaͤt, in Wahrheit; die
Schuͤler des Hippokrates werden dir beweiſen, daß man
keine beſſere erfinden kann, um wahnwizig zu werden.
Es ſcheint alſo ſehr wahrſcheinlich, daß alle dieſe Gei-
ſter, dieſe Welten, welche ſie bewohnen, und dieſe
Gluͤkſeligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen
zu theilen hoft, nicht mehr Wahrheit haben, als die
Nymphen, die Liebesgoͤtter und die Grazien der Dichter,
als die Gaͤrten der Heſperiden und die Jnſeln der Cir-
ce und Calypſo; kurz, als alle dieſe Spiele der Ein-
bildungskraft, welche uns beluſtigen, ohne daß wir ſie
fuͤr wuͤrklich halten. Die Religion unſrer Vaͤter be-
fiehlt uns einen Jupiter, eine Venus zu glauben; ganz
gut; aber was fuͤr eine Vorſtellung macht man uns
von ihnen? Jupiter ſoll ein GOtt, Venus eine Goͤt-
tin ſeyn: Allein der Jupiter des Phidias iſt nichts
mehr als ein heroiſcher Mann, noch die Venus des
Praxiteles mehr als ein ſchoͤnes Weib; von dem Gott
und der Goͤttin hat kein Menſch in Griechenland den

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[98/0120] Agathon, die man uns vorſchreibt, um zu der geheimnißvollen Gluͤkſeligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige auf- opfern ſollen, die uns die Natur und unſre Sinnen an- bieten? Wir ſollen uns den ſichtbaren Dingen entzie- hen, um die unſichtbaren zu ſehen; wir ſollen aufhoͤren zu empfinden, damit wir deſto lebhafter phantaſiren koͤnnen. Verſtopfet eure Sinnen, ſagen ſie, ſo werdet ihr Dinge ſehen und hoͤren, wovon dieſe thieriſchen Menſchen, die gleich dem Vieh mit den Augen ſehen, und mit den Ohren hoͤren, ſich keinen Begriff machen koͤnnen. Eine vortrefliche Diaͤt, in Wahrheit; die Schuͤler des Hippokrates werden dir beweiſen, daß man keine beſſere erfinden kann, um wahnwizig zu werden. Es ſcheint alſo ſehr wahrſcheinlich, daß alle dieſe Gei- ſter, dieſe Welten, welche ſie bewohnen, und dieſe Gluͤkſeligkeiten, welche man nach dem Tode mit ihnen zu theilen hoft, nicht mehr Wahrheit haben, als die Nymphen, die Liebesgoͤtter und die Grazien der Dichter, als die Gaͤrten der Heſperiden und die Jnſeln der Cir- ce und Calypſo; kurz, als alle dieſe Spiele der Ein- bildungskraft, welche uns beluſtigen, ohne daß wir ſie fuͤr wuͤrklich halten. Die Religion unſrer Vaͤter be- fiehlt uns einen Jupiter, eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was fuͤr eine Vorſtellung macht man uns von ihnen? Jupiter ſoll ein GOtt, Venus eine Goͤt- tin ſeyn: Allein der Jupiter des Phidias iſt nichts mehr als ein heroiſcher Mann, noch die Venus des Praxiteles mehr als ein ſchoͤnes Weib; von dem Gott und der Goͤttin hat kein Menſch in Griechenland den minde-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/120>, abgerufen am 23.11.2024.