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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, zweytes Capitel.
winselnde Häßlichkeit in der Natur nichts als Ekel er-
wekt? Und sind etwann die Vergnügen der Wohlthä-
tigkeit und Menschenliebe weniger sinnlich? Dasjenige,
was in dir vorgehen wird, wenn du dir die contrastiren-
den Gemählde einer geängstigten und einer fröhlichen
Stadt vorstellest, die Homer auf den Schild des Achilles
sezt, wird dir diese Frage auflösen! Nur diejenigen,
die der Genuß des Vergnügens in die lebhafteste Ent-
zükung sezt, sind fähig, von den lachenden Bildern einer
allgemeinen Freude und Wonne so sehr gerührt zu wer-
den, daß sie dieselbige ausser sich zu sehen wünschen; das
Vergnügen der Gutthätigkeit wird allemal mit demjeni-
gen in Verhältniß stehen, welches ihnen der Anblik ei-
nes vergnügten Gesichts, eines fröhlichen Tanzes, ei-
ner öffentlichen Lustdarkeit macht; und es ist nur der
Vortheil ihres Vergnügens, je allgemeiner diese Scene
ist. Je größer die Anzahl der Fröhlichen und die Man-
nigfaltigkeit der Freuden, desto größer die Wollust, wo-
von diese Art von Menschen, an denen alles Sinn, al-
les Herz und Seele ist, beym Anblik derselben über-
strömet werden. Laß uns also gestehen, Callias, daß
alle Vergnügen, die uns die Natur anbeut, sinnlich
sind; und daß die hochfliegendste, abgezogenste und gei-
stigste Einbildungskraft uns keine andre verschaffen kann,
als solche, die wir auf eine weit vollkommere Art aus
dem rosenbekränzten Becher, und von den Lippen der
schönen Cyane saugen könnten.

Es ist wahr, es giebt noch eine Art von Vergnü-
gen, die beym ersten Anblik eine Ausnahme von mei-

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Drittes Buch, zweytes Capitel.
winſelnde Haͤßlichkeit in der Natur nichts als Ekel er-
wekt? Und ſind etwann die Vergnuͤgen der Wohlthaͤ-
tigkeit und Menſchenliebe weniger ſinnlich? Dasjenige,
was in dir vorgehen wird, wenn du dir die contraſtiren-
den Gemaͤhlde einer geaͤngſtigten und einer froͤhlichen
Stadt vorſtelleſt, die Homer auf den Schild des Achilles
ſezt, wird dir dieſe Frage aufloͤſen! Nur diejenigen,
die der Genuß des Vergnuͤgens in die lebhafteſte Ent-
zuͤkung ſezt, ſind faͤhig, von den lachenden Bildern einer
allgemeinen Freude und Wonne ſo ſehr geruͤhrt zu wer-
den, daß ſie dieſelbige auſſer ſich zu ſehen wuͤnſchen; das
Vergnuͤgen der Gutthaͤtigkeit wird allemal mit demjeni-
gen in Verhaͤltniß ſtehen, welches ihnen der Anblik ei-
nes vergnuͤgten Geſichts, eines froͤhlichen Tanzes, ei-
ner oͤffentlichen Luſtdarkeit macht; und es iſt nur der
Vortheil ihres Vergnuͤgens, je allgemeiner dieſe Scene
iſt. Je groͤßer die Anzahl der Froͤhlichen und die Man-
nigfaltigkeit der Freuden, deſto groͤßer die Wolluſt, wo-
von dieſe Art von Menſchen, an denen alles Sinn, al-
les Herz und Seele iſt, beym Anblik derſelben uͤber-
ſtroͤmet werden. Laß uns alſo geſtehen, Callias, daß
alle Vergnuͤgen, die uns die Natur anbeut, ſinnlich
ſind; und daß die hochfliegendſte, abgezogenſte und gei-
ſtigſte Einbildungskraft uns keine andre verſchaffen kann,
als ſolche, die wir auf eine weit vollkommere Art aus
dem roſenbekraͤnzten Becher, und von den Lippen der
ſchoͤnen Cyane ſaugen koͤnnten.

Es iſt wahr, es giebt noch eine Art von Vergnuͤ-
gen, die beym erſten Anblik eine Ausnahme von mei-

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[89/0111] Drittes Buch, zweytes Capitel. winſelnde Haͤßlichkeit in der Natur nichts als Ekel er- wekt? Und ſind etwann die Vergnuͤgen der Wohlthaͤ- tigkeit und Menſchenliebe weniger ſinnlich? Dasjenige, was in dir vorgehen wird, wenn du dir die contraſtiren- den Gemaͤhlde einer geaͤngſtigten und einer froͤhlichen Stadt vorſtelleſt, die Homer auf den Schild des Achilles ſezt, wird dir dieſe Frage aufloͤſen! Nur diejenigen, die der Genuß des Vergnuͤgens in die lebhafteſte Ent- zuͤkung ſezt, ſind faͤhig, von den lachenden Bildern einer allgemeinen Freude und Wonne ſo ſehr geruͤhrt zu wer- den, daß ſie dieſelbige auſſer ſich zu ſehen wuͤnſchen; das Vergnuͤgen der Gutthaͤtigkeit wird allemal mit demjeni- gen in Verhaͤltniß ſtehen, welches ihnen der Anblik ei- nes vergnuͤgten Geſichts, eines froͤhlichen Tanzes, ei- ner oͤffentlichen Luſtdarkeit macht; und es iſt nur der Vortheil ihres Vergnuͤgens, je allgemeiner dieſe Scene iſt. Je groͤßer die Anzahl der Froͤhlichen und die Man- nigfaltigkeit der Freuden, deſto groͤßer die Wolluſt, wo- von dieſe Art von Menſchen, an denen alles Sinn, al- les Herz und Seele iſt, beym Anblik derſelben uͤber- ſtroͤmet werden. Laß uns alſo geſtehen, Callias, daß alle Vergnuͤgen, die uns die Natur anbeut, ſinnlich ſind; und daß die hochfliegendſte, abgezogenſte und gei- ſtigſte Einbildungskraft uns keine andre verſchaffen kann, als ſolche, die wir auf eine weit vollkommere Art aus dem roſenbekraͤnzten Becher, und von den Lippen der ſchoͤnen Cyane ſaugen koͤnnten. Es iſt wahr, es giebt noch eine Art von Vergnuͤ- gen, die beym erſten Anblik eine Ausnahme von mei- nem F 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/111>, abgerufen am 23.11.2024.