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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, zweytes Capitel.
griffe bezeichnet, von denen fich die Einbildungskraft
nicht anders als mit vieler Anstrengung und einer be-
ständigen Bemühung, die gänzliche Verwirrung so vie-
ler unbestimmter Schattenbilder zu verhüten, einige
Jdeen machen kann; wenn anders dasjenige so genennt
zu werden verdient, was in Absicht seines würklichen
Gegenstands in der Natur, kaum so viel ist als ein
Schatten gegen den Körper der ihn zu werfen scheint.
Es ist wahr, es giebt abgezogene Begriffe, die für ge-
wisse enthustastische Seelen entzükend sind; aber warum
sind sie es? Jn der That bloß darum, weil ihre Ein-
bildungskraft sie auf eine schlaue Art zu verkörpern weiß.
Untersuche alle angenehmen Jdeen von dieser Art, so
unkörperlich und geistig sie scheinen mögen, und du
wirst finden, daß das Vergnügen, so sie deiner Seele
machen, von den sinnlichen Vorstellungen entsteht, wo-
mit sie begleitet sind. Bemühe dich so sehr als du willst,
dir Götter ohne Gestalt, ohne Glanz, ohne etwas das
die Sinnen rührt, vorzustellen; es wird die unmöglich
seyn. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Jdee
eiues Hercules oder Theseus, wie unsre Einbildungs-
kraft sich diese Helden vorzustellen pflegt, die Jdeen
eines überirrdischen Glanzes, einer mehr als menschli-
chen Schönheit, eines ambrosischen Geruchs, werden
sich unvermerkt an die Stelle derjenigen sezen, die du
dich vergeblich zu machen bestrebest; und du wirst noch
immer an dem irrdischen Boden kleben, wenn du schon
in den empyreischen Gegenden zu schweben glaubst.
Sind die Vergnügen des Herzens weniger sinnlich? Sie

sind
F 4

Drittes Buch, zweytes Capitel.
griffe bezeichnet, von denen fich die Einbildungskraft
nicht anders als mit vieler Anſtrengung und einer be-
ſtaͤndigen Bemuͤhung, die gaͤnzliche Verwirrung ſo vie-
ler unbeſtimmter Schattenbilder zu verhuͤten, einige
Jdeen machen kann; wenn anders dasjenige ſo genennt
zu werden verdient, was in Abſicht ſeines wuͤrklichen
Gegenſtands in der Natur, kaum ſo viel iſt als ein
Schatten gegen den Koͤrper der ihn zu werfen ſcheint.
Es iſt wahr, es giebt abgezogene Begriffe, die fuͤr ge-
wiſſe enthuſtaſtiſche Seelen entzuͤkend ſind; aber warum
ſind ſie es? Jn der That bloß darum, weil ihre Ein-
bildungskraft ſie auf eine ſchlaue Art zu verkoͤrpern weiß.
Unterſuche alle angenehmen Jdeen von dieſer Art, ſo
unkoͤrperlich und geiſtig ſie ſcheinen moͤgen, und du
wirſt finden, daß das Vergnuͤgen, ſo ſie deiner Seele
machen, von den ſinnlichen Vorſtellungen entſteht, wo-
mit ſie begleitet ſind. Bemuͤhe dich ſo ſehr als du willſt,
dir Goͤtter ohne Geſtalt, ohne Glanz, ohne etwas das
die Sinnen ruͤhrt, vorzuſtellen; es wird die unmoͤglich
ſeyn. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Jdee
eiues Hercules oder Theſeus, wie unſre Einbildungs-
kraft ſich dieſe Helden vorzuſtellen pflegt, die Jdeen
eines uͤberirrdiſchen Glanzes, einer mehr als menſchli-
chen Schoͤnheit, eines ambroſiſchen Geruchs, werden
ſich unvermerkt an die Stelle derjenigen ſezen, die du
dich vergeblich zu machen beſtrebeſt; und du wirſt noch
immer an dem irrdiſchen Boden kleben, wenn du ſchon
in den empyreiſchen Gegenden zu ſchweben glaubſt.
Sind die Vergnuͤgen des Herzens weniger ſinnlich? Sie

ſind
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[87/0109] Drittes Buch, zweytes Capitel. griffe bezeichnet, von denen fich die Einbildungskraft nicht anders als mit vieler Anſtrengung und einer be- ſtaͤndigen Bemuͤhung, die gaͤnzliche Verwirrung ſo vie- ler unbeſtimmter Schattenbilder zu verhuͤten, einige Jdeen machen kann; wenn anders dasjenige ſo genennt zu werden verdient, was in Abſicht ſeines wuͤrklichen Gegenſtands in der Natur, kaum ſo viel iſt als ein Schatten gegen den Koͤrper der ihn zu werfen ſcheint. Es iſt wahr, es giebt abgezogene Begriffe, die fuͤr ge- wiſſe enthuſtaſtiſche Seelen entzuͤkend ſind; aber warum ſind ſie es? Jn der That bloß darum, weil ihre Ein- bildungskraft ſie auf eine ſchlaue Art zu verkoͤrpern weiß. Unterſuche alle angenehmen Jdeen von dieſer Art, ſo unkoͤrperlich und geiſtig ſie ſcheinen moͤgen, und du wirſt finden, daß das Vergnuͤgen, ſo ſie deiner Seele machen, von den ſinnlichen Vorſtellungen entſteht, wo- mit ſie begleitet ſind. Bemuͤhe dich ſo ſehr als du willſt, dir Goͤtter ohne Geſtalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen ruͤhrt, vorzuſtellen; es wird die unmoͤglich ſeyn. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Jdee eiues Hercules oder Theſeus, wie unſre Einbildungs- kraft ſich dieſe Helden vorzuſtellen pflegt, die Jdeen eines uͤberirrdiſchen Glanzes, einer mehr als menſchli- chen Schoͤnheit, eines ambroſiſchen Geruchs, werden ſich unvermerkt an die Stelle derjenigen ſezen, die du dich vergeblich zu machen beſtrebeſt; und du wirſt noch immer an dem irrdiſchen Boden kleben, wenn du ſchon in den empyreiſchen Gegenden zu ſchweben glaubſt. Sind die Vergnuͤgen des Herzens weniger ſinnlich? Sie ſind F 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/109>, abgerufen am 23.11.2024.