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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, zweytes Capitel.
lich gepeiniget werden wollte? Wer sieht nicht einen
schönen Gegenstand lieber, als einen ekelhaften? Wer
hört nicht lieber den Gesang der Grasmüke, als das Ge-
heul der Nachteule? Wer zieht nicht einen angeneh-
men Geruch oder Geschmak einem widrigen vor? Und
würde nicht der enthaltsame Callias selbst lieber auf
einem Lager von Blumen in den Rosenarmen irgend
einer schönen Nymphe ruhen, als in den glühenden Ar-
men des ehernen Gözenbildes, welchem die Andacht ge-
wisser Syrischer Völker, wie man sagt, ihre Kinder
opfert? Eben so wenig scheint es einem Zweifel unter-
worfen zu seyn, daß der Schmerz und das Vergnügen
so unverträglich sind, daß eine einzige gepeinigte Ner-
ve genug ist, uns gegen die vereinigten Reizungen aller
Wollüste unempfindlich zu machen. Die Freyheit von
allen Arten der Schmerzen ist also unstreitig eine un-
umgäugliche Bedingung der Glükseligkeit; allein da sie
nichts positives ist, so ist sie nicht so wol ein Gut, als
der Zustand, worinn man des Genusses des Guten fä-
hig ist. Dieser Genuß allein ist es, dessen Dauer den
Stand hervorbringt, den man Glükseligkeit nennt.

Es ist unläugbar, daß nicht alle Arten und Gra-
de des Vergnügens gut sind. Die Natur allein hat
das Recht uns die Vergnügen anzuzeigen, die sie uns
bestimmt hat. So unendlich die Menge dieser angeneh-
men Empfindungen zu seyn scheint, so ist doch leicht zu
sehen, daß sie alle entweder zu den Vergnügungen der
Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer drit-

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Drittes Buch, zweytes Capitel.
lich gepeiniget werden wollte? Wer ſieht nicht einen
ſchoͤnen Gegenſtand lieber, als einen ekelhaften? Wer
hoͤrt nicht lieber den Geſang der Grasmuͤke, als das Ge-
heul der Nachteule? Wer zieht nicht einen angeneh-
men Geruch oder Geſchmak einem widrigen vor? Und
wuͤrde nicht der enthaltſame Callias ſelbſt lieber auf
einem Lager von Blumen in den Roſenarmen irgend
einer ſchoͤnen Nymphe ruhen, als in den gluͤhenden Ar-
men des ehernen Goͤzenbildes, welchem die Andacht ge-
wiſſer Syriſcher Voͤlker, wie man ſagt, ihre Kinder
opfert? Eben ſo wenig ſcheint es einem Zweifel unter-
worfen zu ſeyn, daß der Schmerz und das Vergnuͤgen
ſo unvertraͤglich ſind, daß eine einzige gepeinigte Ner-
ve genug iſt, uns gegen die vereinigten Reizungen aller
Wolluͤſte unempfindlich zu machen. Die Freyheit von
allen Arten der Schmerzen iſt alſo unſtreitig eine un-
umgaͤugliche Bedingung der Gluͤkſeligkeit; allein da ſie
nichts poſitives iſt, ſo iſt ſie nicht ſo wol ein Gut, als
der Zuſtand, worinn man des Genuſſes des Guten faͤ-
hig iſt. Dieſer Genuß allein iſt es, deſſen Dauer den
Stand hervorbringt, den man Gluͤkſeligkeit nennt.

Es iſt unlaͤugbar, daß nicht alle Arten und Gra-
de des Vergnuͤgens gut ſind. Die Natur allein hat
das Recht uns die Vergnuͤgen anzuzeigen, die ſie uns
beſtimmt hat. So unendlich die Menge dieſer angeneh-
men Empfindungen zu ſeyn ſcheint, ſo iſt doch leicht zu
ſehen, daß ſie alle entweder zu den Vergnuͤgungen der
Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer drit-

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[85/0107] Drittes Buch, zweytes Capitel. lich gepeiniget werden wollte? Wer ſieht nicht einen ſchoͤnen Gegenſtand lieber, als einen ekelhaften? Wer hoͤrt nicht lieber den Geſang der Grasmuͤke, als das Ge- heul der Nachteule? Wer zieht nicht einen angeneh- men Geruch oder Geſchmak einem widrigen vor? Und wuͤrde nicht der enthaltſame Callias ſelbſt lieber auf einem Lager von Blumen in den Roſenarmen irgend einer ſchoͤnen Nymphe ruhen, als in den gluͤhenden Ar- men des ehernen Goͤzenbildes, welchem die Andacht ge- wiſſer Syriſcher Voͤlker, wie man ſagt, ihre Kinder opfert? Eben ſo wenig ſcheint es einem Zweifel unter- worfen zu ſeyn, daß der Schmerz und das Vergnuͤgen ſo unvertraͤglich ſind, daß eine einzige gepeinigte Ner- ve genug iſt, uns gegen die vereinigten Reizungen aller Wolluͤſte unempfindlich zu machen. Die Freyheit von allen Arten der Schmerzen iſt alſo unſtreitig eine un- umgaͤugliche Bedingung der Gluͤkſeligkeit; allein da ſie nichts poſitives iſt, ſo iſt ſie nicht ſo wol ein Gut, als der Zuſtand, worinn man des Genuſſes des Guten faͤ- hig iſt. Dieſer Genuß allein iſt es, deſſen Dauer den Stand hervorbringt, den man Gluͤkſeligkeit nennt. Es iſt unlaͤugbar, daß nicht alle Arten und Gra- de des Vergnuͤgens gut ſind. Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnuͤgen anzuzeigen, die ſie uns beſtimmt hat. So unendlich die Menge dieſer angeneh- men Empfindungen zu ſeyn ſcheint, ſo iſt doch leicht zu ſehen, daß ſie alle entweder zu den Vergnuͤgungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer drit- ten F 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/107>, abgerufen am 23.11.2024.