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Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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verschlechterte sich von Winter zu Winter, und zuletzt blieb weiter nichts übrig, als es zu machen, wie die Landsleute näher nach den Städten hin: Haus und Hof an die verhaßten Deutschen zu verkaufen und mit dem geringen Rest des Kaufgeldes weiter nach der Grenze hin eine neue Ansiedelung zu versuchen oder das Schmuggelgeschäft zu betreiben.

Als ich vor längerer Zeit in jene Gegend kam, sagten die älteren Leute mir, daß Wanagischken kaum noch zu erkennen sei. Ich fand zwar ein Dorf vor, aber es hatte außer einem stattlichen Hause von Ziegeln, an das sich im weiten Viereck Scheunen und Stallungen anschlossen, nur noch drei Höfe, und dieselben zeigten den größten Zerfall. Wanagischken war -- so konnte man wohl sagen -- ein Gut geworden, dem noch aus alter Zeit ein paar Bauernhöfe anklebten, und diese Umwandlung hatte sich in etwa zwanzig Jahren vollzogen. Herr Friedrich Geelhaar, der Gutsbesitzer, jetzt ein rüstiger Sechziger -- man hätte ihm glauben können, wenn er schon seit längerer Zeit lachend an jedem neuen Geburtstage versicherte, erst fünfundfünfzig zu haben -- war ein Mann, der sich "durch eigene Kraft heraufgearbeitet" hatte und mit einem gewissen nicht unberechtigten Stolz auf seine "Errungenschaften" zurücksah. Er hatte eine städtische Mittelschule nur zur Hälfte durchgemacht und dann als Inspector auf einem großen Gute, eine Meile näher nach der Stadt, wie er sagte, "leben gelernt". Von Hause aus ganz

verschlechterte sich von Winter zu Winter, und zuletzt blieb weiter nichts übrig, als es zu machen, wie die Landsleute näher nach den Städten hin: Haus und Hof an die verhaßten Deutschen zu verkaufen und mit dem geringen Rest des Kaufgeldes weiter nach der Grenze hin eine neue Ansiedelung zu versuchen oder das Schmuggelgeschäft zu betreiben.

Als ich vor längerer Zeit in jene Gegend kam, sagten die älteren Leute mir, daß Wanagischken kaum noch zu erkennen sei. Ich fand zwar ein Dorf vor, aber es hatte außer einem stattlichen Hause von Ziegeln, an das sich im weiten Viereck Scheunen und Stallungen anschlossen, nur noch drei Höfe, und dieselben zeigten den größten Zerfall. Wanagischken war — so konnte man wohl sagen — ein Gut geworden, dem noch aus alter Zeit ein paar Bauernhöfe anklebten, und diese Umwandlung hatte sich in etwa zwanzig Jahren vollzogen. Herr Friedrich Geelhaar, der Gutsbesitzer, jetzt ein rüstiger Sechziger — man hätte ihm glauben können, wenn er schon seit längerer Zeit lachend an jedem neuen Geburtstage versicherte, erst fünfundfünfzig zu haben — war ein Mann, der sich „durch eigene Kraft heraufgearbeitet“ hatte und mit einem gewissen nicht unberechtigten Stolz auf seine „Errungenschaften“ zurücksah. Er hatte eine städtische Mittelschule nur zur Hälfte durchgemacht und dann als Inspector auf einem großen Gute, eine Meile näher nach der Stadt, wie er sagte, „leben gelernt“. Von Hause aus ganz

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[0008] verschlechterte sich von Winter zu Winter, und zuletzt blieb weiter nichts übrig, als es zu machen, wie die Landsleute näher nach den Städten hin: Haus und Hof an die verhaßten Deutschen zu verkaufen und mit dem geringen Rest des Kaufgeldes weiter nach der Grenze hin eine neue Ansiedelung zu versuchen oder das Schmuggelgeschäft zu betreiben. Als ich vor längerer Zeit in jene Gegend kam, sagten die älteren Leute mir, daß Wanagischken kaum noch zu erkennen sei. Ich fand zwar ein Dorf vor, aber es hatte außer einem stattlichen Hause von Ziegeln, an das sich im weiten Viereck Scheunen und Stallungen anschlossen, nur noch drei Höfe, und dieselben zeigten den größten Zerfall. Wanagischken war — so konnte man wohl sagen — ein Gut geworden, dem noch aus alter Zeit ein paar Bauernhöfe anklebten, und diese Umwandlung hatte sich in etwa zwanzig Jahren vollzogen. Herr Friedrich Geelhaar, der Gutsbesitzer, jetzt ein rüstiger Sechziger — man hätte ihm glauben können, wenn er schon seit längerer Zeit lachend an jedem neuen Geburtstage versicherte, erst fünfundfünfzig zu haben — war ein Mann, der sich „durch eigene Kraft heraufgearbeitet“ hatte und mit einem gewissen nicht unberechtigten Stolz auf seine „Errungenschaften“ zurücksah. Er hatte eine städtische Mittelschule nur zur Hälfte durchgemacht und dann als Inspector auf einem großen Gute, eine Meile näher nach der Stadt, wie er sagte, „leben gelernt“. Von Hause aus ganz

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:07:21Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:07:21Z)

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Zitationshilfe: Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wichert_grita_1910/8>, abgerufen am 22.11.2024.