Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

acquirirt, so führte die einmalige mechanisch erzeugte Anämie
des Pons allgemeine Convulsionen herbei. Von dem Moment ab
ist die Bahn für weit geringere Anlässe eröffnet, und es genügen
nun schon die mit Gemüthsbewegungen etc. verbundenen physio-
logischen Circulationsschwankungen, um einen erneuten epileptischen
Anfall hervorzurufen. Je öfter dann derselbe Vorgang schon stattge-
funden hat, desto | schwieriger wird anerkanntermassen die Heilung.
Endlich beweist das Phänomen der Nachbilder, wie Meynert mit
Recht hervorgehoben hat, dass auch die empfindenden Elemente der
Retina die Fähigkeit haben, die Erregung länger aufzubewahren, als
der Reiz dauerte. Wenn die Farbenempfindung dann wieder erlischt,
so trägt gewiss der Umstand die Hauptschuld, dass wegen der geringen
Anzahl der empfindenden Elemente dieselben, welche eben fungirten,
für einen neuen Reiz in Anspruch genommen werden, so dass der
Empfindungsrest der vorangegangenen übertönt wird. Die Hirn-
rinde aber bietet mit ihren nach Meynert's Schätzung etwa 600
Millionen von Rindenkörpern eine hinreichende Anzahl von Vor-
rathsstätten, in welchen die unzähligen von der Aussenwelt gelie-
ferten Empfindungseindrücke ungestört nach einander aufgespeichert
werden können. In der Eigenschaft der Hirnrindenzellen, bleibende
moleculäre Veränderungen von den nur kurz einwirkenden Reizen
davonzutragen, dürfen wir also nichts Specifisches, Unerhörtes,
sondern nur das durch die Gunst der anatomischen Verhältnisse
gesteigerte Analogen dieser auch den peripherischen Nerven zu-
kommenden Eigenschaft erblicken.

Wir wollen diese Residuen abgelaufener Erregungen, mit
denen die Hirnrinde bevölkert ist, ein für alle Mal Erinnerungs-
bilder nennen, zum Unterschiede von den Sinneseindrücken selbst. --
Nun müssen wir aus später noch zu erörternden Gründen annehmen,
dass auch die Bewegungen unseres Leibes, die Veränderungen in
dem Zustande der Muskulatur zu Empfindungen Anlass geben,
von denen ebenfalls Erinnerungsbilder in der Grosshirnrinde zu-
rückbleiben. Diese Erinnerungsbilder von Empfindungen der Be-
wegungen wollen wir der Kürze halber Bewegungsvorstellungen
oder Bewegungsbilder nennen und sie den übrigen Erinnerungs-
bildern als gleichwerthig anreihen.

Die ganze Grosshirnoberfläche zerfällt nun in
zwei grosse Gebiete von functionell verschiedener
Bedeutung: das Stirnhirn,
das ganze vor der Rolando'schen
Furche gelegene Gebiet jeder Hemisphäre, und das gemein-

acquirirt, so führte die einmalige mechanisch erzeugte Anämie
des Pons allgemeine Convulsionen herbei. Von dem Moment ab
ist die Bahn für weit geringere Anlässe eröffnet, und es genügen
nun schon die mit Gemüthsbewegungen etc. verbundenen physio-
logischen Circulationsschwankungen, um einen erneuten epileptischen
Anfall hervorzurufen. Je öfter dann derselbe Vorgang schon stattge-
funden hat, desto | schwieriger wird anerkanntermassen die Heilung.
Endlich beweist das Phänomen der Nachbilder, wie Meynert mit
Recht hervorgehoben hat, dass auch die empfindenden Elemente der
Retina die Fähigkeit haben, die Erregung länger aufzubewahren, als
der Reiz dauerte. Wenn die Farbenempfindung dann wieder erlischt,
so trägt gewiss der Umstand die Hauptschuld, dass wegen der geringen
Anzahl der empfindenden Elemente dieselben, welche eben fungirten,
für einen neuen Reiz in Anspruch genommen werden, so dass der
Empfindungsrest der vorangegangenen übertönt wird. Die Hirn-
rinde aber bietet mit ihren nach Meynert’s Schätzung etwa 600
Millionen von Rindenkörpern eine hinreichende Anzahl von Vor-
rathsstätten, in welchen die unzähligen von der Aussenwelt gelie-
ferten Empfindungseindrücke ungestört nach einander aufgespeichert
werden können. In der Eigenschaft der Hirnrindenzellen, bleibende
moleculäre Veränderungen von den nur kurz einwirkenden Reizen
davonzutragen, dürfen wir also nichts Specifisches, Unerhörtes,
sondern nur das durch die Gunst der anatomischen Verhältnisse
gesteigerte Analogen dieser auch den peripherischen Nerven zu-
kommenden Eigenschaft erblicken.

Wir wollen diese Residuen abgelaufener Erregungen, mit
denen die Hirnrinde bevölkert ist, ein für alle Mal Erinnerungs-
bilder nennen, zum Unterschiede von den Sinneseindrücken selbst. —
Nun müssen wir aus später noch zu erörternden Gründen annehmen,
dass auch die Bewegungen unseres Leibes, die Veränderungen in
dem Zustande der Muskulatur zu Empfindungen Anlass geben,
von denen ebenfalls Erinnerungsbilder in der Grosshirnrinde zu-
rückbleiben. Diese Erinnerungsbilder von Empfindungen der Be-
wegungen wollen wir der Kürze halber Bewegungsvorstellungen
oder Bewegungsbilder nennen und sie den übrigen Erinnerungs-
bildern als gleichwerthig anreihen.

Die ganze Grosshirnoberfläche zerfällt nun in
zwei grosse Gebiete von functionell verschiedener
Bedeutung: das Stirnhirn,
das ganze vor der Rolando’schen
Furche gelegene Gebiet jeder Hemisphäre, und das gemein-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0009" n="5"/>
acquirirt, so führte die einmalige mechanisch erzeugte Anämie<lb/>
des Pons allgemeine Convulsionen herbei. Von dem Moment ab<lb/>
ist die Bahn für weit geringere Anlässe eröffnet, und es genügen<lb/>
nun schon die mit Gemüthsbewegungen etc. verbundenen physio-<lb/>
logischen Circulationsschwankungen, um einen erneuten epileptischen<lb/>
Anfall hervorzurufen. Je öfter dann derselbe Vorgang schon stattge-<lb/>
funden hat, desto | schwieriger wird anerkanntermassen die Heilung.<lb/>
Endlich beweist das Phänomen der Nachbilder, wie Meynert mit<lb/>
Recht hervorgehoben hat, dass auch die empfindenden Elemente der<lb/>
Retina die Fähigkeit haben, die Erregung länger aufzubewahren, als<lb/>
der Reiz dauerte. Wenn die Farbenempfindung dann wieder erlischt,<lb/>
so trägt gewiss der Umstand die Hauptschuld, dass wegen der geringen<lb/>
Anzahl der empfindenden Elemente dieselben, welche eben fungirten,<lb/>
für einen neuen Reiz in Anspruch genommen werden, so dass der<lb/>
Empfindungsrest der vorangegangenen übertönt wird. Die Hirn-<lb/>
rinde aber bietet mit ihren nach Meynert&#x2019;s Schätzung etwa 600<lb/>
Millionen von Rindenkörpern eine hinreichende Anzahl von Vor-<lb/>
rathsstätten, in welchen die unzähligen von der Aussenwelt gelie-<lb/>
ferten Empfindungseindrücke ungestört nach einander aufgespeichert<lb/>
werden können. In der Eigenschaft der Hirnrindenzellen, bleibende<lb/>
moleculäre Veränderungen von den nur kurz einwirkenden Reizen<lb/>
davonzutragen, dürfen wir also nichts Specifisches, Unerhörtes,<lb/>
sondern nur das durch die Gunst der anatomischen Verhältnisse<lb/>
gesteigerte Analogen dieser auch den peripherischen Nerven zu-<lb/>
kommenden Eigenschaft erblicken.</p><lb/>
          <p>Wir wollen diese Residuen abgelaufener Erregungen, mit<lb/>
denen die Hirnrinde bevölkert ist, ein für alle Mal Erinnerungs-<lb/>
bilder nennen, zum Unterschiede von den Sinneseindrücken selbst. &#x2014;<lb/>
Nun müssen wir aus später noch zu erörternden Gründen annehmen,<lb/>
dass auch die Bewegungen unseres Leibes, die Veränderungen in<lb/>
dem Zustande der Muskulatur zu Empfindungen Anlass geben,<lb/>
von denen ebenfalls Erinnerungsbilder in der Grosshirnrinde zu-<lb/>
rückbleiben. Diese Erinnerungsbilder von Empfindungen der Be-<lb/>
wegungen wollen wir der Kürze halber Bewegungsvorstellungen<lb/>
oder Bewegungsbilder nennen und sie den übrigen Erinnerungs-<lb/>
bildern als gleichwerthig anreihen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Die ganze Grosshirnoberfläche zerfällt nun in<lb/>
zwei grosse Gebiete von functionell verschiedener<lb/>
Bedeutung: das Stirnhirn,</hi> das ganze vor der Rolando&#x2019;schen<lb/>
Furche gelegene Gebiet jeder Hemisphäre, <hi rendition="#g">und das gemein-<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0009] acquirirt, so führte die einmalige mechanisch erzeugte Anämie des Pons allgemeine Convulsionen herbei. Von dem Moment ab ist die Bahn für weit geringere Anlässe eröffnet, und es genügen nun schon die mit Gemüthsbewegungen etc. verbundenen physio- logischen Circulationsschwankungen, um einen erneuten epileptischen Anfall hervorzurufen. Je öfter dann derselbe Vorgang schon stattge- funden hat, desto | schwieriger wird anerkanntermassen die Heilung. Endlich beweist das Phänomen der Nachbilder, wie Meynert mit Recht hervorgehoben hat, dass auch die empfindenden Elemente der Retina die Fähigkeit haben, die Erregung länger aufzubewahren, als der Reiz dauerte. Wenn die Farbenempfindung dann wieder erlischt, so trägt gewiss der Umstand die Hauptschuld, dass wegen der geringen Anzahl der empfindenden Elemente dieselben, welche eben fungirten, für einen neuen Reiz in Anspruch genommen werden, so dass der Empfindungsrest der vorangegangenen übertönt wird. Die Hirn- rinde aber bietet mit ihren nach Meynert’s Schätzung etwa 600 Millionen von Rindenkörpern eine hinreichende Anzahl von Vor- rathsstätten, in welchen die unzähligen von der Aussenwelt gelie- ferten Empfindungseindrücke ungestört nach einander aufgespeichert werden können. In der Eigenschaft der Hirnrindenzellen, bleibende moleculäre Veränderungen von den nur kurz einwirkenden Reizen davonzutragen, dürfen wir also nichts Specifisches, Unerhörtes, sondern nur das durch die Gunst der anatomischen Verhältnisse gesteigerte Analogen dieser auch den peripherischen Nerven zu- kommenden Eigenschaft erblicken. Wir wollen diese Residuen abgelaufener Erregungen, mit denen die Hirnrinde bevölkert ist, ein für alle Mal Erinnerungs- bilder nennen, zum Unterschiede von den Sinneseindrücken selbst. — Nun müssen wir aus später noch zu erörternden Gründen annehmen, dass auch die Bewegungen unseres Leibes, die Veränderungen in dem Zustande der Muskulatur zu Empfindungen Anlass geben, von denen ebenfalls Erinnerungsbilder in der Grosshirnrinde zu- rückbleiben. Diese Erinnerungsbilder von Empfindungen der Be- wegungen wollen wir der Kürze halber Bewegungsvorstellungen oder Bewegungsbilder nennen und sie den übrigen Erinnerungs- bildern als gleichwerthig anreihen. Die ganze Grosshirnoberfläche zerfällt nun in zwei grosse Gebiete von functionell verschiedener Bedeutung: das Stirnhirn, das ganze vor der Rolando’schen Furche gelegene Gebiet jeder Hemisphäre, und das gemein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/9
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/9>, abgerufen am 24.11.2024.