Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

Sprechen richtig verwandt, als auch beim Hören richtig aufgefasst
wird. Dieser Wortschatz lässt sich durch Suggestivfragen fest-
stellen. Doch wird es einer sehr mühsamen, lange fortgesetzten
Beobachtung bedürfen, um diese partielle Form der sensorischen
Aphasie zu constatiren.

2. Ein grosser virtueller Wortschatz ist Hauptbedingung für
diese Form. Zustände, bei welchen nur wenige einfache Wörter
erhalten sind, gehören immer in die sub IV. zu besprechende
motorische Form der Aphasie.

3. Es ist keine Spur von Hemiplegie vorhanden.

4. Es besteht Agraphie. Das Schreiben ist eine bewusste
Bewegung, welche mit innigster Anlehnung an den Klang gelernt
und immer unter Leitung desselben executirt wird. Die Selbst-
beobachtung wenigstens lehrt, und damit stimmt die klinische
Erfahrung überein, dass zwischen der Schreibbewegung und dem
Begriffe durchaus keine ähnliche directe Verknüpfung besteht,
wie sie zwischen Sprechbewegung und Begriff angenommen werden
muss. In den Fällen partieller sensorischer Aphasie wird sich auch
eine partielle Agraphie erwarten lassen.

5. Ganz ans derverhält es sich mit der Fähigkeit, geschrie-
bene oder gedruckte Schriftzeichen zu verstehen. Diese ist je nach
dem Bildungsgrade abhängig oder unabhängig von dem Bestehen der
Klangbilder. Der ungebildete, im Lesen wenig geübte Mann versteht
dus Geschriebene sogar erst, wenn er sich sprechen hört. Der
Gelehrte, von früher Kindheit darin geübt, überfliegt eine Seite
und versteht deren Sinn, ohne sich der Fassung in Worte bewusst
zu werden. Ersterer wird das Symptom der Alexie ausser dem der
Aphasie bieten, letzterer im frappantesten Gegensatze zu seiner
Unfähigkeit das Gesprochene zu verstehen, alles Geschriebene
richtig erfassen. Er wird dagegen beim Vorlesen wieder so
aphasisch sein, wie beim spontanen Sprechen.

Beide Zustände, die Agraphie sowohl als die Alexie, können
auch durch Erkrankung eines ganz anderen Gebietes, nämlich des
optischen Rindengebietes, bedingt sein; denn das optische Erinne-
rungsbild der Schriftzeichen ist zum Schreiben wie zum Lesen
unentbehrlich. Es lässt sich nun zwar die Möglichkeit nicht in
Abrede stellen, dass die Schriftzeichen innerhalb dieses Gebietes
einen besonderen, gerade durch die innige Verknüpfung mit dem
ganzen Sprachgebiete ausgezeichneten Rindenbezirk einnehmen,
und dass so durch eine sehr circumscripte Rindenerkrankung nur

Sprechen richtig verwandt, als auch beim Hören richtig aufgefasst
wird. Dieser Wortschatz lässt sich durch Suggestivfragen fest-
stellen. Doch wird es einer sehr mühsamen, lange fortgesetzten
Beobachtung bedürfen, um diese partielle Form der sensorischen
Aphasie zu constatiren.

2. Ein grosser virtueller Wortschatz ist Hauptbedingung für
diese Form. Zustände, bei welchen nur wenige einfache Wörter
erhalten sind, gehören immer in die sub IV. zu besprechende
motorische Form der Aphasie.

3. Es ist keine Spur von Hemiplegie vorhanden.

4. Es besteht Agraphie. Das Schreiben ist eine bewusste
Bewegung, welche mit innigster Anlehnung an den Klang gelernt
und immer unter Leitung desselben executirt wird. Die Selbst-
beobachtung wenigstens lehrt, und damit stimmt die klinische
Erfahrung überein, dass zwischen der Schreibbewegung und dem
Begriffe durchaus keine ähnliche directe Verknüpfung besteht,
wie sie zwischen Sprechbewegung und Begriff angenommen werden
muss. In den Fällen partieller sensorischer Aphasie wird sich auch
eine partielle Agraphie erwarten lassen.

5. Ganz ans derverhält es sich mit der Fähigkeit, geschrie-
bene oder gedruckte Schriftzeichen zu verstehen. Diese ist je nach
dem Bildungsgrade abhängig oder unabhängig von dem Bestehen der
Klangbilder. Der ungebildete, im Lesen wenig geübte Mann versteht
dus Geschriebene sogar erst, wenn er sich sprechen hört. Der
Gelehrte, von früher Kindheit darin geübt, überfliegt eine Seite
und versteht deren Sinn, ohne sich der Fassung in Worte bewusst
zu werden. Ersterer wird das Symptom der Alexie ausser dem der
Aphasie bieten, letzterer im frappantesten Gegensatze zu seiner
Unfähigkeit das Gesprochene zu verstehen, alles Geschriebene
richtig erfassen. Er wird dagegen beim Vorlesen wieder so
aphasisch sein, wie beim spontanen Sprechen.

Beide Zustände, die Agraphie sowohl als die Alexie, können
auch durch Erkrankung eines ganz anderen Gebietes, nämlich des
optischen Rindengebietes, bedingt sein; denn das optische Erinne-
rungsbild der Schriftzeichen ist zum Schreiben wie zum Lesen
unentbehrlich. Es lässt sich nun zwar die Möglichkeit nicht in
Abrede stellen, dass die Schriftzeichen innerhalb dieses Gebietes
einen besonderen, gerade durch die innige Verknüpfung mit dem
ganzen Sprachgebiete ausgezeichneten Rindenbezirk einnehmen,
und dass so durch eine sehr circumscripte Rindenerkrankung nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0029" n="25"/>
Sprechen richtig verwandt, als auch beim Hören richtig aufgefasst<lb/>
wird. Dieser Wortschatz lässt sich durch Suggestivfragen fest-<lb/>
stellen. Doch wird es einer sehr mühsamen, lange fortgesetzten<lb/>
Beobachtung bedürfen, um diese partielle Form der sensorischen<lb/>
Aphasie zu constatiren.</p><lb/>
          <p>2. Ein grosser virtueller Wortschatz ist Hauptbedingung für<lb/>
diese Form. Zustände, bei welchen nur wenige einfache Wörter<lb/>
erhalten sind, gehören immer in die sub IV. zu besprechende<lb/>
motorische Form der Aphasie.</p><lb/>
          <p>3. Es ist keine Spur von Hemiplegie vorhanden.</p><lb/>
          <p>4. Es besteht Agraphie. Das Schreiben ist eine bewusste<lb/>
Bewegung, welche mit innigster Anlehnung an den Klang gelernt<lb/>
und immer unter Leitung desselben executirt wird. Die Selbst-<lb/>
beobachtung wenigstens lehrt, und damit stimmt die klinische<lb/>
Erfahrung überein, dass zwischen der Schreibbewegung und dem<lb/>
Begriffe durchaus keine ähnliche directe Verknüpfung besteht,<lb/>
wie sie zwischen Sprechbewegung und Begriff angenommen werden<lb/>
muss. In den Fällen partieller sensorischer Aphasie wird sich auch<lb/>
eine partielle Agraphie erwarten lassen.</p><lb/>
          <p>5. Ganz ans derverhält es sich mit der Fähigkeit, geschrie-<lb/>
bene oder gedruckte Schriftzeichen zu verstehen. Diese ist je nach<lb/>
dem Bildungsgrade abhängig oder unabhängig von dem Bestehen der<lb/>
Klangbilder. Der ungebildete, im Lesen wenig geübte Mann versteht<lb/>
dus Geschriebene sogar erst, wenn er sich sprechen hört. Der<lb/>
Gelehrte, von früher Kindheit darin geübt, überfliegt eine Seite<lb/>
und versteht deren Sinn, ohne sich der Fassung in Worte bewusst<lb/>
zu werden. Ersterer wird das Symptom der Alexie ausser dem der<lb/>
Aphasie bieten, letzterer im frappantesten Gegensatze zu seiner<lb/>
Unfähigkeit das Gesprochene zu verstehen, alles Geschriebene<lb/>
richtig erfassen. Er wird dagegen beim Vorlesen wieder so<lb/>
aphasisch sein, wie beim spontanen Sprechen.</p><lb/>
          <p>Beide Zustände, die Agraphie sowohl als die Alexie, können<lb/>
auch durch Erkrankung eines ganz anderen Gebietes, nämlich des<lb/>
optischen Rindengebietes, bedingt sein; denn das optische Erinne-<lb/>
rungsbild der Schriftzeichen ist zum Schreiben wie zum Lesen<lb/>
unentbehrlich. Es lässt sich nun zwar die Möglichkeit nicht in<lb/>
Abrede stellen, dass die Schriftzeichen innerhalb dieses Gebietes<lb/>
einen besonderen, gerade durch die innige Verknüpfung mit dem<lb/>
ganzen Sprachgebiete ausgezeichneten Rindenbezirk einnehmen,<lb/>
und dass so durch eine sehr circumscripte Rindenerkrankung nur<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0029] Sprechen richtig verwandt, als auch beim Hören richtig aufgefasst wird. Dieser Wortschatz lässt sich durch Suggestivfragen fest- stellen. Doch wird es einer sehr mühsamen, lange fortgesetzten Beobachtung bedürfen, um diese partielle Form der sensorischen Aphasie zu constatiren. 2. Ein grosser virtueller Wortschatz ist Hauptbedingung für diese Form. Zustände, bei welchen nur wenige einfache Wörter erhalten sind, gehören immer in die sub IV. zu besprechende motorische Form der Aphasie. 3. Es ist keine Spur von Hemiplegie vorhanden. 4. Es besteht Agraphie. Das Schreiben ist eine bewusste Bewegung, welche mit innigster Anlehnung an den Klang gelernt und immer unter Leitung desselben executirt wird. Die Selbst- beobachtung wenigstens lehrt, und damit stimmt die klinische Erfahrung überein, dass zwischen der Schreibbewegung und dem Begriffe durchaus keine ähnliche directe Verknüpfung besteht, wie sie zwischen Sprechbewegung und Begriff angenommen werden muss. In den Fällen partieller sensorischer Aphasie wird sich auch eine partielle Agraphie erwarten lassen. 5. Ganz ans derverhält es sich mit der Fähigkeit, geschrie- bene oder gedruckte Schriftzeichen zu verstehen. Diese ist je nach dem Bildungsgrade abhängig oder unabhängig von dem Bestehen der Klangbilder. Der ungebildete, im Lesen wenig geübte Mann versteht dus Geschriebene sogar erst, wenn er sich sprechen hört. Der Gelehrte, von früher Kindheit darin geübt, überfliegt eine Seite und versteht deren Sinn, ohne sich der Fassung in Worte bewusst zu werden. Ersterer wird das Symptom der Alexie ausser dem der Aphasie bieten, letzterer im frappantesten Gegensatze zu seiner Unfähigkeit das Gesprochene zu verstehen, alles Geschriebene richtig erfassen. Er wird dagegen beim Vorlesen wieder so aphasisch sein, wie beim spontanen Sprechen. Beide Zustände, die Agraphie sowohl als die Alexie, können auch durch Erkrankung eines ganz anderen Gebietes, nämlich des optischen Rindengebietes, bedingt sein; denn das optische Erinne- rungsbild der Schriftzeichen ist zum Schreiben wie zum Lesen unentbehrlich. Es lässt sich nun zwar die Möglichkeit nicht in Abrede stellen, dass die Schriftzeichen innerhalb dieses Gebietes einen besonderen, gerade durch die innige Verknüpfung mit dem ganzen Sprachgebiete ausgezeichneten Rindenbezirk einnehmen, und dass so durch eine sehr circumscripte Rindenerkrankung nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/29
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/29>, abgerufen am 24.11.2024.