Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

physiologischen Thatsachen als für die Genesis der spontanen Be-
wegungen massgebend folgern lassen. Ihnen unterliegt jeder ein-
zelne Fall von spontaner Bewegung, daher auch die Sprachbewe-
gungen. Dass die Sprachbewegungen zu den mit Bewusstsein
ausgeführten Willensbewegungen gerechnet werden müssen, bedarf
keiner weitläufigen Erörterung. Es folgt schon einfach aus der
Thatsache, dass sie wie jede andere spontane Bewegung vom
Kinde mühsam erlernt werden müssen. Sie gehen so sehr mit
der Entwickelung des Bewusstseins Hand in Hand, dass sie ge-
radezu als ein Massstab dafür betrachtet werden können. Sie ge-
lingen auch erst, nachdem das Kind in vielen andern bewussten
Bewegungen schon eine gewisse Fertigkeit erlangt hat.

Die primären, d. h. die vor Ausbildung des Bewusstseins
vom Kinde executirten Sprachbewegungen sind reflectorischer --
nachahmender*) Natur und werden in denjenigen Gebieten der
Brücke und Oblongata innerhalb der Bahn der Hirnschenkelhaube
ausgelöst, welche das Ursprungsgebiet des Acusticus ausmachen.
Es befinden sich dort grosse vielstrahlige Nervenzellen, welche
als Ausstrahlungen der motorischen Nervenkerne des Facialis,
Vagus und Hypoglossus anzusehen sind und nach Meynert mit
den zum Acusticusursprung gehörigen Fibrae arcuatae durch Zellen-
fortsätze in anatomischer Verbindung stehen. Nach allen Experi-
mentalergebnissen befindet sich auch das Athmungscentrum in
diesem weit ausgedehnten Bereiche des Acusticusursprunges. Beim
neugeborenen Kinde ist es genügend sicher gestellt, dass das Vor-
handensein der Oblongata zum unarticulirten Schrei ausreicht,
einer Muskelaction, welche bei aller Einfachheit die combinirte
Action der Exspiratoren und der Verengerer der Stimmritze vor-
aussetzt.**) Wahrscheinlich erfolgen auch die complicirteren An-

*) Sollte nicht überhaupt die Nachahmung ursprünglich Reflexvorgang
und die Vollendung, die der Mensch darin erlangt, nur dieselbe durch Erb-
schaft gesteigerte Reflexfähigkeit für alle Sinnesgebiete sein, welche unter
allen anderen Thieren am meisten die uns zunächst stehenden Affen auszeich-
net? Thatsächlich sind auch beim Erwachsenen sehr viele nachahmende
Bewegungen unwillkürlicher, reflectorischer Natur. In viel höherem Grade
muss dies beim Kinde der Fall sein, wo das Bewusstsein noch nicht seine
hemmende Einwirkung auf die Reflexthätigkeit ausübt.
**) Zwei derartige Fälle, bei welchen die Perforation am lebenden
Kinde gemacht worden war, sind mir von Herrn Dr. Grossmann, Assistenten
der geburtshilflichen Poliklinik hierselbst, mitgetheilt worden. Bei dem einen
derselben wurde die Section von Herrn Prof. Waldeyer gemacht.

physiologischen Thatsachen als für die Genesis der spontanen Be-
wegungen massgebend folgern lassen. Ihnen unterliegt jeder ein-
zelne Fall von spontaner Bewegung, daher auch die Sprachbewe-
gungen. Dass die Sprachbewegungen zu den mit Bewusstsein
ausgeführten Willensbewegungen gerechnet werden müssen, bedarf
keiner weitläufigen Erörterung. Es folgt schon einfach aus der
Thatsache, dass sie wie jede andere spontane Bewegung vom
Kinde mühsam erlernt werden müssen. Sie gehen so sehr mit
der Entwickelung des Bewusstseins Hand in Hand, dass sie ge-
radezu als ein Massstab dafür betrachtet werden können. Sie ge-
lingen auch erst, nachdem das Kind in vielen andern bewussten
Bewegungen schon eine gewisse Fertigkeit erlangt hat.

Die primären, d. h. die vor Ausbildung des Bewusstseins
vom Kinde executirten Sprachbewegungen sind reflectorischer —
nachahmender*) Natur und werden in denjenigen Gebieten der
Brücke und Oblongata innerhalb der Bahn der Hirnschenkelhaube
ausgelöst, welche das Ursprungsgebiet des Acusticus ausmachen.
Es befinden sich dort grosse vielstrahlige Nervenzellen, welche
als Ausstrahlungen der motorischen Nervenkerne des Facialis,
Vagus und Hypoglossus anzusehen sind und nach Meynert mit
den zum Acusticusursprung gehörigen Fibrae arcuatae durch Zellen-
fortsätze in anatomischer Verbindung stehen. Nach allen Experi-
mentalergebnissen befindet sich auch das Athmungscentrum in
diesem weit ausgedehnten Bereiche des Acusticusursprunges. Beim
neugeborenen Kinde ist es genügend sicher gestellt, dass das Vor-
handensein der Oblongata zum unarticulirten Schrei ausreicht,
einer Muskelaction, welche bei aller Einfachheit die combinirte
Action der Exspiratoren und der Verengerer der Stimmritze vor-
aussetzt.**) Wahrscheinlich erfolgen auch die complicirteren An-

*) Sollte nicht überhaupt die Nachahmung ursprünglich Reflexvorgang
und die Vollendung, die der Mensch darin erlangt, nur dieselbe durch Erb-
schaft gesteigerte Reflexfähigkeit für alle Sinnesgebiete sein, welche unter
allen anderen Thieren am meisten die uns zunächst stehenden Affen auszeich-
net? Thatsächlich sind auch beim Erwachsenen sehr viele nachahmende
Bewegungen unwillkürlicher, reflectorischer Natur. In viel höherem Grade
muss dies beim Kinde der Fall sein, wo das Bewusstsein noch nicht seine
hemmende Einwirkung auf die Reflexthätigkeit ausübt.
**) Zwei derartige Fälle, bei welchen die Perforation am lebenden
Kinde gemacht worden war, sind mir von Herrn Dr. Grossmann, Assistenten
der geburtshilflichen Poliklinik hierselbst, mitgetheilt worden. Bei dem einen
derselben wurde die Section von Herrn Prof. Waldeyer gemacht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0017" n="13"/>
physiologischen Thatsachen als für die Genesis der spontanen Be-<lb/>
wegungen massgebend folgern lassen. Ihnen unterliegt jeder ein-<lb/>
zelne Fall von spontaner Bewegung, daher auch die Sprachbewe-<lb/>
gungen. Dass die Sprachbewegungen zu den mit Bewusstsein<lb/>
ausgeführten Willensbewegungen gerechnet werden müssen, bedarf<lb/>
keiner weitläufigen Erörterung. Es folgt schon einfach aus der<lb/>
Thatsache, dass sie wie jede andere spontane Bewegung vom<lb/>
Kinde mühsam erlernt werden müssen. Sie gehen so sehr mit<lb/>
der Entwickelung des Bewusstseins Hand in Hand, dass sie ge-<lb/>
radezu als ein Massstab dafür betrachtet werden können. Sie ge-<lb/>
lingen auch erst, nachdem das Kind in vielen andern bewussten<lb/>
Bewegungen schon eine gewisse Fertigkeit erlangt hat.</p><lb/>
          <p>Die primären, d. h. die vor Ausbildung des Bewusstseins<lb/>
vom Kinde executirten Sprachbewegungen sind reflectorischer &#x2014;<lb/>
nachahmender<note place="foot" n="*)">Sollte nicht überhaupt die Nachahmung ursprünglich Reflexvorgang<lb/>
und die Vollendung, die der Mensch darin erlangt, nur dieselbe durch Erb-<lb/>
schaft gesteigerte Reflexfähigkeit für alle Sinnesgebiete sein, welche unter<lb/>
allen anderen Thieren am meisten die uns zunächst stehenden Affen auszeich-<lb/>
net? Thatsächlich sind auch beim Erwachsenen sehr viele nachahmende<lb/>
Bewegungen unwillkürlicher, reflectorischer Natur. In viel höherem Grade<lb/>
muss dies beim Kinde der Fall sein, wo das Bewusstsein noch nicht seine<lb/>
hemmende Einwirkung auf die Reflexthätigkeit ausübt.</note> Natur und werden in denjenigen Gebieten der<lb/>
Brücke und Oblongata innerhalb der Bahn der Hirnschenkelhaube<lb/>
ausgelöst, welche das Ursprungsgebiet des Acusticus ausmachen.<lb/>
Es befinden sich dort grosse vielstrahlige Nervenzellen, welche<lb/>
als Ausstrahlungen der motorischen Nervenkerne des Facialis,<lb/>
Vagus und Hypoglossus anzusehen sind und nach Meynert mit<lb/>
den zum Acusticusursprung gehörigen Fibrae arcuatae durch Zellen-<lb/>
fortsätze in anatomischer Verbindung stehen. Nach allen Experi-<lb/>
mentalergebnissen befindet sich auch das Athmungscentrum in<lb/>
diesem weit ausgedehnten Bereiche des Acusticusursprunges. Beim<lb/>
neugeborenen Kinde ist es genügend sicher gestellt, dass das Vor-<lb/>
handensein der Oblongata zum unarticulirten Schrei ausreicht,<lb/>
einer Muskelaction, welche bei aller Einfachheit die combinirte<lb/>
Action der Exspiratoren und der Verengerer der Stimmritze vor-<lb/>
aussetzt.<note place="foot" n="**)">Zwei derartige Fälle, bei welchen die Perforation am lebenden<lb/>
Kinde gemacht worden war, sind mir von Herrn Dr. Grossmann, Assistenten<lb/>
der geburtshilflichen Poliklinik hierselbst, mitgetheilt worden. Bei dem einen<lb/>
derselben wurde die Section von Herrn Prof. Waldeyer gemacht.</note> Wahrscheinlich erfolgen auch die complicirteren An-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0017] physiologischen Thatsachen als für die Genesis der spontanen Be- wegungen massgebend folgern lassen. Ihnen unterliegt jeder ein- zelne Fall von spontaner Bewegung, daher auch die Sprachbewe- gungen. Dass die Sprachbewegungen zu den mit Bewusstsein ausgeführten Willensbewegungen gerechnet werden müssen, bedarf keiner weitläufigen Erörterung. Es folgt schon einfach aus der Thatsache, dass sie wie jede andere spontane Bewegung vom Kinde mühsam erlernt werden müssen. Sie gehen so sehr mit der Entwickelung des Bewusstseins Hand in Hand, dass sie ge- radezu als ein Massstab dafür betrachtet werden können. Sie ge- lingen auch erst, nachdem das Kind in vielen andern bewussten Bewegungen schon eine gewisse Fertigkeit erlangt hat. Die primären, d. h. die vor Ausbildung des Bewusstseins vom Kinde executirten Sprachbewegungen sind reflectorischer — nachahmender *) Natur und werden in denjenigen Gebieten der Brücke und Oblongata innerhalb der Bahn der Hirnschenkelhaube ausgelöst, welche das Ursprungsgebiet des Acusticus ausmachen. Es befinden sich dort grosse vielstrahlige Nervenzellen, welche als Ausstrahlungen der motorischen Nervenkerne des Facialis, Vagus und Hypoglossus anzusehen sind und nach Meynert mit den zum Acusticusursprung gehörigen Fibrae arcuatae durch Zellen- fortsätze in anatomischer Verbindung stehen. Nach allen Experi- mentalergebnissen befindet sich auch das Athmungscentrum in diesem weit ausgedehnten Bereiche des Acusticusursprunges. Beim neugeborenen Kinde ist es genügend sicher gestellt, dass das Vor- handensein der Oblongata zum unarticulirten Schrei ausreicht, einer Muskelaction, welche bei aller Einfachheit die combinirte Action der Exspiratoren und der Verengerer der Stimmritze vor- aussetzt. **) Wahrscheinlich erfolgen auch die complicirteren An- *) Sollte nicht überhaupt die Nachahmung ursprünglich Reflexvorgang und die Vollendung, die der Mensch darin erlangt, nur dieselbe durch Erb- schaft gesteigerte Reflexfähigkeit für alle Sinnesgebiete sein, welche unter allen anderen Thieren am meisten die uns zunächst stehenden Affen auszeich- net? Thatsächlich sind auch beim Erwachsenen sehr viele nachahmende Bewegungen unwillkürlicher, reflectorischer Natur. In viel höherem Grade muss dies beim Kinde der Fall sein, wo das Bewusstsein noch nicht seine hemmende Einwirkung auf die Reflexthätigkeit ausübt. **) Zwei derartige Fälle, bei welchen die Perforation am lebenden Kinde gemacht worden war, sind mir von Herrn Dr. Grossmann, Assistenten der geburtshilflichen Poliklinik hierselbst, mitgetheilt worden. Bei dem einen derselben wurde die Section von Herrn Prof. Waldeyer gemacht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/17
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/17>, abgerufen am 21.11.2024.