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Werner, Reinhold von: Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. Berlin, 1880.

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Werner

Gegen Abend bezogen wir Quartiere und ich kam auf
einen einzeln gelegenen Bauernhof. Ehe ich mich schlafen legte,
zog ich meinen Thomas a Kempis hervor, um darin zu lesen --
ich hatte es lange nicht gethan -- da denken Sie sich mein
Erstaunen, meine Herren! das Buch war von einer Kugel durch-
löchert, die innere Seite aber unverletzt, so daß die Kugel noch
im Buche stecken mußte, wo ich sie auch richtig zwischen den
Blättern fand. Auf dem ersten unverletzten Blatte begann das
achtzehnte Capitel des vierten Buches und an der Stelle, wo
die Kugel einen sichtbaren Bleiabdruck hinterlassen, standen die
Worte: "es geschieht bisweilen Mehreres, als der Mensch be-
greifen kann."

"Bravo Flamberg," gut erzählt, "bravo!" riefen die Zu-
hörer, "aber zeigen Sie uns das Buch, da Sie es ja stets bei
sich tragen."

"Das Buch? Ja so, ich erinnere, als ich an Bord ging,
wechselte ich den Rock und es ist in der Tasche stecken geblieben.
Nun das nächste Mal bringe ich es mit, aber die Kugel habe
ich hier, die können Sie sehen." Dabei holte er eine alte Mus-
ketenkugel aus der Geldbörse, doch vermochte sie nicht die auf-
tauchenden Zweifel zu beschwichtigen. Flamberg war es jedoch
gewohnt, dergleichen öfter zu hören und steckte daher die
Kugel gleichmüthig wieder in seine Börse. Der Thomas a
Kempis war natürlich auch später nicht zur Hand, wenn Nach-
frage kam; daß der Lieutenant aber den Jahrestag des Sturmes
der Dannewerke vom 23. April auf den Juli verlegt hatte,
wurde von seinem Auditorium nicht bemerkt, da dessen Aufmerk-
samkeit in diesem Augenblicke ein anderer Gegenstand voll in
Anspruch nahm.

Ein dreimastiger Schuner unter nordamerikanischer Flagge
kreuzte die Weser herauf und schoß mit der frischen Briese in
unmittelbarer Nähe der "Hansa" vorüber. Aller Augen richte-
ten sich auf denselben, denn der Seemann hat nicht nur für

Werner

Gegen Abend bezogen wir Quartiere und ich kam auf
einen einzeln gelegenen Bauernhof. Ehe ich mich ſchlafen legte,
zog ich meinen Thomas a Kempis hervor, um darin zu leſen —
ich hatte es lange nicht gethan — da denken Sie ſich mein
Erſtaunen, meine Herren! das Buch war von einer Kugel durch-
löchert, die innere Seite aber unverletzt, ſo daß die Kugel noch
im Buche ſtecken mußte, wo ich ſie auch richtig zwiſchen den
Blättern fand. Auf dem erſten unverletzten Blatte begann das
achtzehnte Capitel des vierten Buches und an der Stelle, wo
die Kugel einen ſichtbaren Bleiabdruck hinterlaſſen, ſtanden die
Worte: „es geſchieht bisweilen Mehreres, als der Menſch be-
greifen kann.“

„Bravo Flamberg,“ gut erzählt, „bravo!“ riefen die Zu-
hörer, „aber zeigen Sie uns das Buch, da Sie es ja ſtets bei
ſich tragen.“

„Das Buch? Ja ſo, ich erinnere, als ich an Bord ging,
wechſelte ich den Rock und es iſt in der Taſche ſtecken geblieben.
Nun das nächſte Mal bringe ich es mit, aber die Kugel habe
ich hier, die können Sie ſehen.“ Dabei holte er eine alte Mus-
ketenkugel aus der Geldbörſe, doch vermochte ſie nicht die auf-
tauchenden Zweifel zu beſchwichtigen. Flamberg war es jedoch
gewohnt, dergleichen öfter zu hören und ſteckte daher die
Kugel gleichmüthig wieder in ſeine Börſe. Der Thomas a
Kempis war natürlich auch ſpäter nicht zur Hand, wenn Nach-
frage kam; daß der Lieutenant aber den Jahrestag des Sturmes
der Dannewerke vom 23. April auf den Juli verlegt hatte,
wurde von ſeinem Auditorium nicht bemerkt, da deſſen Aufmerk-
ſamkeit in dieſem Augenblicke ein anderer Gegenſtand voll in
Anſpruch nahm.

Ein dreimaſtiger Schuner unter nordamerikaniſcher Flagge
kreuzte die Weſer herauf und ſchoß mit der friſchen Brieſe in
unmittelbarer Nähe der „Hanſa“ vorüber. Aller Augen richte-
ten ſich auf denſelben, denn der Seemann hat nicht nur für

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[274/0286] Werner Gegen Abend bezogen wir Quartiere und ich kam auf einen einzeln gelegenen Bauernhof. Ehe ich mich ſchlafen legte, zog ich meinen Thomas a Kempis hervor, um darin zu leſen — ich hatte es lange nicht gethan — da denken Sie ſich mein Erſtaunen, meine Herren! das Buch war von einer Kugel durch- löchert, die innere Seite aber unverletzt, ſo daß die Kugel noch im Buche ſtecken mußte, wo ich ſie auch richtig zwiſchen den Blättern fand. Auf dem erſten unverletzten Blatte begann das achtzehnte Capitel des vierten Buches und an der Stelle, wo die Kugel einen ſichtbaren Bleiabdruck hinterlaſſen, ſtanden die Worte: „es geſchieht bisweilen Mehreres, als der Menſch be- greifen kann.“ „Bravo Flamberg,“ gut erzählt, „bravo!“ riefen die Zu- hörer, „aber zeigen Sie uns das Buch, da Sie es ja ſtets bei ſich tragen.“ „Das Buch? Ja ſo, ich erinnere, als ich an Bord ging, wechſelte ich den Rock und es iſt in der Taſche ſtecken geblieben. Nun das nächſte Mal bringe ich es mit, aber die Kugel habe ich hier, die können Sie ſehen.“ Dabei holte er eine alte Mus- ketenkugel aus der Geldbörſe, doch vermochte ſie nicht die auf- tauchenden Zweifel zu beſchwichtigen. Flamberg war es jedoch gewohnt, dergleichen öfter zu hören und ſteckte daher die Kugel gleichmüthig wieder in ſeine Börſe. Der Thomas a Kempis war natürlich auch ſpäter nicht zur Hand, wenn Nach- frage kam; daß der Lieutenant aber den Jahrestag des Sturmes der Dannewerke vom 23. April auf den Juli verlegt hatte, wurde von ſeinem Auditorium nicht bemerkt, da deſſen Aufmerk- ſamkeit in dieſem Augenblicke ein anderer Gegenſtand voll in Anſpruch nahm. Ein dreimaſtiger Schuner unter nordamerikaniſcher Flagge kreuzte die Weſer herauf und ſchoß mit der friſchen Brieſe in unmittelbarer Nähe der „Hanſa“ vorüber. Aller Augen richte- ten ſich auf denſelben, denn der Seemann hat nicht nur für

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Zitationshilfe: Werner, Reinhold von: Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. Berlin, 1880, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/werner_seeleben_1880/286>, abgerufen am 22.11.2024.