Wie gross sie sein kann, sehen wir am deutlichsten an den individuellen vererbbaren Charakteren des Menschen. Ich kenne eine Familie, in welcher sich ein etwa stecknadelkopf-grosses Grübchen in der Haut vor dem linken Ohr durch drei Genera- tionen hindurch vererbt hat. Diese kleine Abnormität muss als potentia im Keimplasma der betreffenden Individuen ent- halten sein, und ihr Keimplasma muss sich von dem anderer Menschen dadurch unterscheiden, dass dasjenige Element des- selben, von welchem aus jene Hautstelle bestimmt wird, etwas abweichend gebildet ist. Nicht darin, dass überhaupt eine Ver- erbung bis in solche kleinste Einzelheiten hinein möglich ist, liegt der logische Zwang für uns, für jede solche Einzelheit ein besonderes Element im Keimplasma anzunehmen, sondern darin, dass diese einzelne Stelle des Körpers für sich allein erblich abändern kann. Wenn alle Menschen dieses Grübchen vor dem Ohr besässen, so könnten wir allein daraus, dass dies vererbbar ist, noch nicht schliessen, dass es im Keim- plasma durch ein besonderes Element vertreten sein müsse. Es wäre denkbar, dass es mit der Haut der ganzen Gesichtshälfte zusammen durch ein Element, z. B. ein Biophor vertreten wäre, das sich dann im Laufe der Ontogenese aber in viele sekundäre Biophoren spaltete, die verschieden wären, und von welchen eines abweichend ausfallen müsste und gerade an jene Haut- stelle zu liegen käme. Das Zwingende liegt vielmehr darin, dass nicht alle Menschen dieses Grübchen besitzen, dass zwei Menschen denkbar sind, die in allem Übrigen sich gleich sind, von denen aber der Eine das Grübchen besitzt, der Andere nicht. Das Keimplasma der Beiden müsste dann fast gleich sein, doch könnte es nicht wirklich ganz gleich sein, son- dern müsste irgend ein Element enthalten, welches abweicht von dem entsprechenden des andern Keimplasma's. Dies heisst aber nichts Anderes, als dass der betreffende, selbst- ständig vom Keim aus veränderliche Charakter auch
Wie gross sie sein kann, sehen wir am deutlichsten an den individuellen vererbbaren Charakteren des Menschen. Ich kenne eine Familie, in welcher sich ein etwa stecknadelkopf-grosses Grübchen in der Haut vor dem linken Ohr durch drei Genera- tionen hindurch vererbt hat. Diese kleine Abnormität muss als potentia im Keimplasma der betreffenden Individuen ent- halten sein, und ihr Keimplasma muss sich von dem anderer Menschen dadurch unterscheiden, dass dasjenige Element des- selben, von welchem aus jene Hautstelle bestimmt wird, etwas abweichend gebildet ist. Nicht darin, dass überhaupt eine Ver- erbung bis in solche kleinste Einzelheiten hinein möglich ist, liegt der logische Zwang für uns, für jede solche Einzelheit ein besonderes Element im Keimplasma anzunehmen, sondern darin, dass diese einzelne Stelle des Körpers für sich allein erblich abändern kann. Wenn alle Menschen dieses Grübchen vor dem Ohr besässen, so könnten wir allein daraus, dass dies vererbbar ist, noch nicht schliessen, dass es im Keim- plasma durch ein besonderes Element vertreten sein müsse. Es wäre denkbar, dass es mit der Haut der ganzen Gesichtshälfte zusammen durch ein Element, z. B. ein Biophor vertreten wäre, das sich dann im Laufe der Ontogenese aber in viele sekundäre Biophoren spaltete, die verschieden wären, und von welchen eines abweichend ausfallen müsste und gerade an jene Haut- stelle zu liegen käme. Das Zwingende liegt vielmehr darin, dass nicht alle Menschen dieses Grübchen besitzen, dass zwei Menschen denkbar sind, die in allem Übrigen sich gleich sind, von denen aber der Eine das Grübchen besitzt, der Andere nicht. Das Keimplasma der Beiden müsste dann fast gleich sein, doch könnte es nicht wirklich ganz gleich sein, son- dern müsste irgend ein Element enthalten, welches abweicht von dem entsprechenden des andern Keimplasma’s. Dies heisst aber nichts Anderes, als dass der betreffende, selbst- ständig vom Keim aus veränderliche Charakter auch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0098"n="74"/><p>Wie gross sie sein kann, sehen wir am deutlichsten an den<lb/>
individuellen vererbbaren Charakteren des Menschen. Ich kenne<lb/>
eine Familie, in welcher sich ein etwa stecknadelkopf-grosses<lb/>
Grübchen in der Haut vor dem linken Ohr durch drei Genera-<lb/>
tionen hindurch vererbt hat. Diese kleine Abnormität muss<lb/>
als potentia im Keimplasma der betreffenden Individuen ent-<lb/>
halten sein, und ihr Keimplasma muss sich von dem anderer<lb/>
Menschen dadurch unterscheiden, dass dasjenige Element des-<lb/>
selben, von welchem aus jene Hautstelle bestimmt wird, etwas<lb/>
abweichend gebildet ist. Nicht darin, dass überhaupt eine Ver-<lb/>
erbung bis in solche kleinste Einzelheiten hinein möglich ist,<lb/>
liegt der logische Zwang für uns, für jede solche Einzelheit<lb/>
ein besonderes Element im Keimplasma anzunehmen, sondern<lb/>
darin, <hirendition="#g">dass diese einzelne Stelle des Körpers für sich<lb/>
allein erblich abändern kann</hi>. Wenn alle Menschen dieses<lb/>
Grübchen vor dem Ohr besässen, so könnten wir allein daraus,<lb/>
dass dies vererbbar ist, noch nicht schliessen, dass es im Keim-<lb/>
plasma durch ein besonderes Element vertreten sein müsse. Es<lb/>
wäre denkbar, dass es mit der Haut der ganzen Gesichtshälfte<lb/>
zusammen durch <hirendition="#g">ein</hi> Element, z. B. ein Biophor vertreten wäre,<lb/>
das sich dann im Laufe der Ontogenese aber in viele sekundäre<lb/>
Biophoren spaltete, die verschieden wären, und von welchen<lb/>
eines abweichend ausfallen müsste und gerade an jene Haut-<lb/>
stelle zu liegen käme. Das Zwingende liegt vielmehr darin,<lb/>
dass nicht alle Menschen dieses Grübchen besitzen, dass zwei<lb/>
Menschen denkbar sind, die in allem Übrigen sich gleich sind,<lb/>
von denen aber der Eine das Grübchen besitzt, der Andere<lb/>
nicht. Das Keimplasma der Beiden müsste dann fast gleich<lb/>
sein, doch könnte es nicht wirklich <hirendition="#g">ganz</hi> gleich sein, son-<lb/>
dern müsste irgend ein Element enthalten, welches abweicht<lb/>
von dem entsprechenden des andern Keimplasma’s. Dies<lb/>
heisst aber nichts Anderes, als dass <hirendition="#g">der betreffende, selbst-<lb/>
ständig vom Keim aus veränderliche Charakter auch<lb/></hi></p></div></div></div></body></text></TEI>
[74/0098]
Wie gross sie sein kann, sehen wir am deutlichsten an den
individuellen vererbbaren Charakteren des Menschen. Ich kenne
eine Familie, in welcher sich ein etwa stecknadelkopf-grosses
Grübchen in der Haut vor dem linken Ohr durch drei Genera-
tionen hindurch vererbt hat. Diese kleine Abnormität muss
als potentia im Keimplasma der betreffenden Individuen ent-
halten sein, und ihr Keimplasma muss sich von dem anderer
Menschen dadurch unterscheiden, dass dasjenige Element des-
selben, von welchem aus jene Hautstelle bestimmt wird, etwas
abweichend gebildet ist. Nicht darin, dass überhaupt eine Ver-
erbung bis in solche kleinste Einzelheiten hinein möglich ist,
liegt der logische Zwang für uns, für jede solche Einzelheit
ein besonderes Element im Keimplasma anzunehmen, sondern
darin, dass diese einzelne Stelle des Körpers für sich
allein erblich abändern kann. Wenn alle Menschen dieses
Grübchen vor dem Ohr besässen, so könnten wir allein daraus,
dass dies vererbbar ist, noch nicht schliessen, dass es im Keim-
plasma durch ein besonderes Element vertreten sein müsse. Es
wäre denkbar, dass es mit der Haut der ganzen Gesichtshälfte
zusammen durch ein Element, z. B. ein Biophor vertreten wäre,
das sich dann im Laufe der Ontogenese aber in viele sekundäre
Biophoren spaltete, die verschieden wären, und von welchen
eines abweichend ausfallen müsste und gerade an jene Haut-
stelle zu liegen käme. Das Zwingende liegt vielmehr darin,
dass nicht alle Menschen dieses Grübchen besitzen, dass zwei
Menschen denkbar sind, die in allem Übrigen sich gleich sind,
von denen aber der Eine das Grübchen besitzt, der Andere
nicht. Das Keimplasma der Beiden müsste dann fast gleich
sein, doch könnte es nicht wirklich ganz gleich sein, son-
dern müsste irgend ein Element enthalten, welches abweicht
von dem entsprechenden des andern Keimplasma’s. Dies
heisst aber nichts Anderes, als dass der betreffende, selbst-
ständig vom Keim aus veränderliche Charakter auch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/98>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.