Capitel XII. Zweifelhafte Vererbungs-Erscheinungen.
1. Xenien und Telegonie.
Wenn es auch gewiss nicht die Aufgabe einer Theorie der Vererbung ist, auf alle möglichen Erscheinungen einzugehen, die mit zweifelhaftem Recht als Vererbung gedeutet worden sind, so möchte ich doch einige vermeintliche Beobachtungen nicht ganz mit Stillschweigen übergehen, weil sie schon öfters besprochen worden und von einer so bedeutenden Autorität wie Darwin der Beachtung werth gehalten worden sind. Es sind dies zunächst die sog. "Xenien" und das, was ich für den Fall, dass es thatsächlich existirt, als Telegonie oder Fern- zeugung bezeichnen möchte, und was gewöhnlich als "Infection des Keimes" aufgeführt wird.
Unter "Xenien" verstehen die Botaniker seit Focke jene Fälle, wo "der Blüthenstaub ausserhalb der befruchteten Eizelle und des aus ihr hervorgehenden Embryo's auf die Ge- webe der mütterlichen Frucht erbliche Eigenschaften übertragen haben soll". Darwin hat viele Fälle davon mitgetheilt und durch Auswanderung von "Keimchen" aus den Samenzellen (Pollenschläuchen) in das umgebende Gewebe des Fruchtknotens zu erklären gesucht. Focke hat dann die bekannten Fälle alle zusammengestellt, und wenn man diese durchliest, erhält man den Eindruck, dass hier Täuschungen sehr leicht mit unter- laufen können. In Kolben von gelbkörnigem Mais (Zea) ent- stehen zuweilen nach Bestäubung der Blüthe mit dem Pollen einer blausamigen Maissorte blaue Körner. Ob aber hier nicht frühere Kreuzungen der beiden Arten einen sofortigen Einfluss des fremden Pollens auf die Frucht vorgetäuscht haben? Hat doch J. Anderson Henry zu beobachten geglaubt, dass sämmt- liche Blüthen einer Inflorescenz einer weissblühenden Calceolaria
Capitel XII. Zweifelhafte Vererbungs-Erscheinungen.
1. Xenien und Telegonie.
Wenn es auch gewiss nicht die Aufgabe einer Theorie der Vererbung ist, auf alle möglichen Erscheinungen einzugehen, die mit zweifelhaftem Recht als Vererbung gedeutet worden sind, so möchte ich doch einige vermeintliche Beobachtungen nicht ganz mit Stillschweigen übergehen, weil sie schon öfters besprochen worden und von einer so bedeutenden Autorität wie Darwin der Beachtung werth gehalten worden sind. Es sind dies zunächst die sog. „Xenien“ und das, was ich für den Fall, dass es thatsächlich existirt, als Telegonie oder Fern- zeugung bezeichnen möchte, und was gewöhnlich als „Infection des Keimes“ aufgeführt wird.
Unter „Xenien“ verstehen die Botaniker seit Focke jene Fälle, wo „der Blüthenstaub ausserhalb der befruchteten Eizelle und des aus ihr hervorgehenden Embryo’s auf die Ge- webe der mütterlichen Frucht erbliche Eigenschaften übertragen haben soll“. Darwin hat viele Fälle davon mitgetheilt und durch Auswanderung von „Keimchen“ aus den Samenzellen (Pollenschläuchen) in das umgebende Gewebe des Fruchtknotens zu erklären gesucht. Focke hat dann die bekannten Fälle alle zusammengestellt, und wenn man diese durchliest, erhält man den Eindruck, dass hier Täuschungen sehr leicht mit unter- laufen können. In Kolben von gelbkörnigem Mais (Zea) ent- stehen zuweilen nach Bestäubung der Blüthe mit dem Pollen einer blausamigen Maissorte blaue Körner. Ob aber hier nicht frühere Kreuzungen der beiden Arten einen sofortigen Einfluss des fremden Pollens auf die Frucht vorgetäuscht haben? Hat doch J. Anderson Henry zu beobachten geglaubt, dass sämmt- liche Blüthen einer Inflorescenz einer weissblühenden Calceolaria
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Capitel XII.
Zweifelhafte Vererbungs-Erscheinungen.
1. Xenien und Telegonie.
Wenn es auch gewiss nicht die Aufgabe einer Theorie der
Vererbung ist, auf alle möglichen Erscheinungen einzugehen,
die mit zweifelhaftem Recht als Vererbung gedeutet worden
sind, so möchte ich doch einige vermeintliche Beobachtungen
nicht ganz mit Stillschweigen übergehen, weil sie schon öfters
besprochen worden und von einer so bedeutenden Autorität
wie Darwin der Beachtung werth gehalten worden sind. Es
sind dies zunächst die sog. „Xenien“ und das, was ich für den
Fall, dass es thatsächlich existirt, als Telegonie oder Fern-
zeugung bezeichnen möchte, und was gewöhnlich als „Infection
des Keimes“ aufgeführt wird.
Unter „Xenien“ verstehen die Botaniker seit Focke
jene Fälle, wo „der Blüthenstaub ausserhalb der befruchteten
Eizelle und des aus ihr hervorgehenden Embryo’s auf die Ge-
webe der mütterlichen Frucht erbliche Eigenschaften übertragen
haben soll“. Darwin hat viele Fälle davon mitgetheilt und
durch Auswanderung von „Keimchen“ aus den Samenzellen
(Pollenschläuchen) in das umgebende Gewebe des Fruchtknotens
zu erklären gesucht. Focke hat dann die bekannten Fälle alle
zusammengestellt, und wenn man diese durchliest, erhält man
den Eindruck, dass hier Täuschungen sehr leicht mit unter-
laufen können. In Kolben von gelbkörnigem Mais (Zea) ent-
stehen zuweilen nach Bestäubung der Blüthe mit dem Pollen
einer blausamigen Maissorte blaue Körner. Ob aber hier nicht
frühere Kreuzungen der beiden Arten einen sofortigen Einfluss
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doch J. Anderson Henry zu beobachten geglaubt, dass sämmt-
liche Blüthen einer Inflorescenz einer weissblühenden Calceolaria
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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/527>, abgerufen am 22.11.2024.
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