und Stelle der Ontogenese vorhanden sein, bis zu welcher die Entwickelung der beiden Geschlechter genau homolog ist. Wir werden deshalb einen Rückschlag auf die sekundären Charaktere des andern Geschlechtes nur da erwarten können, wo diese Stelle dauernd erhalten bleibt. Für die Lycaena wäre diese Trennungsstelle die Matrix der Flügel- schuppen, für eine im weiblichen Geschlecht flügellose Psyche eine gewisse Zellengruppe der Thorax-Hypodermis, bei Bonellia würden es die sämmtlichen Zellen der Larve sein, bei den Räder- thieren schon das Ei selbst. Eine weibliche Bonellia würde deshalb -- wenn unsere Anschauung die richtige ist -- durch Castration keine männlichen Charaktere entwickeln können, weil sie den Punkt der Ontogenese längst überschritten hat, von dem aus die Gabelung in einen männlichen oder weiblichen Körper beginnt, und bei den Räderthieren kann nicht erwartet werden, dass durch irgend einen Einfluss jemals ein Thier vom Habitus des Weibchens aus einem männlichen Ei kommen sollte.
In dem Capitel über die geschlechtliche Fortpflanzung, speciell in dem Abschnitt über den Kampf der väterlichen und mütterlichen Vererbungstendenzen beim Aufbau des Kindes, ist stillschweigend von einer weit verbreiteten, wie ich glaube, irrigen Auffassung des Geschlechtes abgewichen worden, wofür ich an dieser Stelle am besten die Rechtfertigung geben kann.
Es ist nämlich bisher meistens die Übertragung des Ge- schlechtes als ein Akt der Vererbung aufgefasst worden. Dies ist insofern irrig, als in jedem Keimplasma die Anlagen zu beiden Geschlechtern enthalten sind, und der Vererbungsvorgang selbst offenbar nichts mit der Bestimmung des Geschlechtes zu thun hat. Wenn das Kind einer Mutter weiblichen Ge- schlechtes ist, so folgt daraus noch keineswegs, dass das Gepräge der sekundären oder primären Sexualcharaktere dieser Tochter
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und Stelle der Ontogenese vorhanden sein, bis zu welcher die Entwickelung der beiden Geschlechter genau homolog ist. Wir werden deshalb einen Rückschlag auf die sekundären Charaktere des andern Geschlechtes nur da erwarten können, wo diese Stelle dauernd erhalten bleibt. Für die Lycaena wäre diese Trennungsstelle die Matrix der Flügel- schuppen, für eine im weiblichen Geschlecht flügellose Psyche eine gewisse Zellengruppe der Thorax-Hypodermis, bei Bonellia würden es die sämmtlichen Zellen der Larve sein, bei den Räder- thieren schon das Ei selbst. Eine weibliche Bonellia würde deshalb — wenn unsere Anschauung die richtige ist — durch Castration keine männlichen Charaktere entwickeln können, weil sie den Punkt der Ontogenese längst überschritten hat, von dem aus die Gabelung in einen männlichen oder weiblichen Körper beginnt, und bei den Räderthieren kann nicht erwartet werden, dass durch irgend einen Einfluss jemals ein Thier vom Habitus des Weibchens aus einem männlichen Ei kommen sollte.
In dem Capitel über die geschlechtliche Fortpflanzung, speciell in dem Abschnitt über den Kampf der väterlichen und mütterlichen Vererbungstendenzen beim Aufbau des Kindes, ist stillschweigend von einer weit verbreiteten, wie ich glaube, irrigen Auffassung des Geschlechtes abgewichen worden, wofür ich an dieser Stelle am besten die Rechtfertigung geben kann.
Es ist nämlich bisher meistens die Übertragung des Ge- schlechtes als ein Akt der Vererbung aufgefasst worden. Dies ist insofern irrig, als in jedem Keimplasma die Anlagen zu beiden Geschlechtern enthalten sind, und der Vererbungsvorgang selbst offenbar nichts mit der Bestimmung des Geschlechtes zu thun hat. Wenn das Kind einer Mutter weiblichen Ge- schlechtes ist, so folgt daraus noch keineswegs, dass das Gepräge der sekundären oder primären Sexualcharaktere dieser Tochter
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und Stelle der Ontogenese vorhanden sein, bis zu
welcher die Entwickelung der beiden Geschlechter
genau homolog ist. Wir werden deshalb einen Rückschlag
auf die sekundären Charaktere des andern Geschlechtes nur da
erwarten können, wo diese Stelle dauernd erhalten bleibt. Für
die Lycaena wäre diese Trennungsstelle die Matrix der Flügel-
schuppen, für eine im weiblichen Geschlecht flügellose Psyche
eine gewisse Zellengruppe der Thorax-Hypodermis, bei Bonellia
würden es die sämmtlichen Zellen der Larve sein, bei den Räder-
thieren schon das Ei selbst. Eine weibliche Bonellia würde
deshalb — wenn unsere Anschauung die richtige ist — durch
Castration keine männlichen Charaktere entwickeln können, weil
sie den Punkt der Ontogenese längst überschritten hat, von
dem aus die Gabelung in einen männlichen oder weiblichen
Körper beginnt, und bei den Räderthieren kann nicht erwartet
werden, dass durch irgend einen Einfluss jemals ein Thier vom
Habitus des Weibchens aus einem männlichen Ei kommen sollte.
In dem Capitel über die geschlechtliche Fortpflanzung,
speciell in dem Abschnitt über den Kampf der väterlichen und
mütterlichen Vererbungstendenzen beim Aufbau des Kindes, ist
stillschweigend von einer weit verbreiteten, wie ich glaube,
irrigen Auffassung des Geschlechtes abgewichen worden, wofür
ich an dieser Stelle am besten die Rechtfertigung geben kann.
Es ist nämlich bisher meistens die Übertragung des Ge-
schlechtes als ein Akt der Vererbung aufgefasst worden. Dies
ist insofern irrig, als in jedem Keimplasma die Anlagen zu
beiden Geschlechtern enthalten sind, und der Vererbungsvorgang
selbst offenbar nichts mit der Bestimmung des Geschlechtes
zu thun hat. Wenn das Kind einer Mutter weiblichen Ge-
schlechtes ist, so folgt daraus noch keineswegs, dass das Gepräge
der sekundären oder primären Sexualcharaktere dieser Tochter
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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/507>, abgerufen am 22.11.2024.
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