Sexualcharaktere des Hahnes an. Ich besitze eine weibliche Ente, welche nicht mehr legt und welche die Färbung des Enterichs angenommen hat. Beim männlichen Menschen bleibt die Stimme hoch, weiblich, der Bart entwickelt sich nicht, wenn in der Jugend Castration vorgenommen wurde.
Offenbar zwingen diese Thatsachen zu der Annahme, dass die Fähigkeit zur Entwickelung der weiblichen sekundären Charaktere im Körper des Männchens, die zur Entwickelung der männlichen Charaktere im Soma des Weibchens latent ent- halten ist, bereit unter gewissen Bedingungen hervor zu treten. Dieser Schluss ist denn auch von Darwin bereits gezogen worden. Man könnte an seiner Berechtigung nur insofern zweifeln, als ein Wechsel der sekundären Geschlechtscharaktere bei ein und demselben Individuum nur in sehr wenigen Fällen und bei sehr wenigen Arten höherer Thiere beobachtet wurde: bei Vögeln und Säugethieren; man könnte also Bedenken tragen, die Schlüsse aus diesen Beobachtungen zu verallgemeinern. Immerhin bleiben die beobachteten Fälle zu erklären, und es muss versucht werden, sie der Theorie einzuordnen.
Ich knüpfe an ein möglichst einfaches Beispiel an. Bei manchen Schmetterlingen aus der Familie der Lycaeniden sind die Weibchen braun gefärbt auf der Oberseite ihrer Flügel, die Männchen aber blau, und es lässt sich sehr wahrscheinlich machen, dass die braune Farbe das Ursprüngliche war, wie es ja heute noch Lycaena-Arten giebt, die in beiden Geschlechtern braun sind. Der idioplasmatische Vorgang muss hier der ge- wesen sein, dass die primären Determinanten jener Zellen, welche die Flügelfarbe bedingen, sagen wir die "braunen" Determi- nanten, sich im Keimplasma in "blaue" umwandelten, aber erst nach vorgängiger Verdopplung derselben, und so, dass immer die eine der Zwillings-Determinanten braun blieb, und dass eine Einrichtung getroffen wurde, welche ihnen nur alternirend
Sexualcharaktere des Hahnes an. Ich besitze eine weibliche Ente, welche nicht mehr legt und welche die Färbung des Enterichs angenommen hat. Beim männlichen Menschen bleibt die Stimme hoch, weiblich, der Bart entwickelt sich nicht, wenn in der Jugend Castration vorgenommen wurde.
Offenbar zwingen diese Thatsachen zu der Annahme, dass die Fähigkeit zur Entwickelung der weiblichen sekundären Charaktere im Körper des Männchens, die zur Entwickelung der männlichen Charaktere im Soma des Weibchens latent ent- halten ist, bereit unter gewissen Bedingungen hervor zu treten. Dieser Schluss ist denn auch von Darwin bereits gezogen worden. Man könnte an seiner Berechtigung nur insofern zweifeln, als ein Wechsel der sekundären Geschlechtscharaktere bei ein und demselben Individuum nur in sehr wenigen Fällen und bei sehr wenigen Arten höherer Thiere beobachtet wurde: bei Vögeln und Säugethieren; man könnte also Bedenken tragen, die Schlüsse aus diesen Beobachtungen zu verallgemeinern. Immerhin bleiben die beobachteten Fälle zu erklären, und es muss versucht werden, sie der Theorie einzuordnen.
Ich knüpfe an ein möglichst einfaches Beispiel an. Bei manchen Schmetterlingen aus der Familie der Lycaeniden sind die Weibchen braun gefärbt auf der Oberseite ihrer Flügel, die Männchen aber blau, und es lässt sich sehr wahrscheinlich machen, dass die braune Farbe das Ursprüngliche war, wie es ja heute noch Lycaena-Arten giebt, die in beiden Geschlechtern braun sind. Der idioplasmatische Vorgang muss hier der ge- wesen sein, dass die primären Determinanten jener Zellen, welche die Flügelfarbe bedingen, sagen wir die „braunen“ Determi- nanten, sich im Keimplasma in „blaue“ umwandelten, aber erst nach vorgängiger Verdopplung derselben, und so, dass immer die eine der Zwillings-Determinanten braun blieb, und dass eine Einrichtung getroffen wurde, welche ihnen nur alternirend
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0494"n="470"/>
Sexualcharaktere des Hahnes an. Ich besitze eine weibliche<lb/>
Ente, welche nicht mehr legt und welche die Färbung des<lb/>
Enterichs angenommen hat. Beim männlichen Menschen bleibt<lb/>
die Stimme hoch, weiblich, der Bart entwickelt sich nicht, wenn<lb/>
in der Jugend Castration vorgenommen wurde.</p><lb/><p>Offenbar zwingen diese Thatsachen zu der Annahme, dass<lb/>
die Fähigkeit zur Entwickelung der weiblichen sekundären<lb/>
Charaktere im Körper des Männchens, die zur Entwickelung der<lb/>
männlichen Charaktere im Soma des Weibchens latent ent-<lb/>
halten ist, bereit unter gewissen Bedingungen hervor zu treten.<lb/>
Dieser Schluss ist denn auch von <hirendition="#g">Darwin</hi> bereits gezogen<lb/>
worden. Man könnte an seiner Berechtigung nur insofern<lb/>
zweifeln, als ein Wechsel der sekundären Geschlechtscharaktere<lb/>
bei ein und demselben Individuum nur in sehr wenigen Fällen<lb/>
und bei sehr wenigen Arten höherer Thiere beobachtet wurde:<lb/>
bei Vögeln und Säugethieren; man könnte also Bedenken tragen,<lb/>
die Schlüsse aus diesen Beobachtungen zu verallgemeinern.<lb/>
Immerhin bleiben die beobachteten Fälle zu erklären, und es<lb/>
muss versucht werden, sie der Theorie einzuordnen.</p><lb/><p>Ich knüpfe an ein möglichst einfaches Beispiel an. Bei<lb/>
manchen Schmetterlingen aus der Familie der Lycaeniden sind<lb/>
die Weibchen braun gefärbt auf der Oberseite ihrer Flügel, die<lb/>
Männchen aber blau, und es lässt sich sehr wahrscheinlich<lb/>
machen, dass die braune Farbe das Ursprüngliche war, wie es<lb/>
ja heute noch Lycaena-Arten giebt, die in beiden Geschlechtern<lb/>
braun sind. Der idioplasmatische Vorgang muss hier der ge-<lb/>
wesen sein, dass die primären Determinanten jener Zellen, welche<lb/>
die Flügelfarbe bedingen, sagen wir die „braunen“ Determi-<lb/>
nanten, sich im Keimplasma in „blaue“ umwandelten, aber <hirendition="#g">erst<lb/>
nach vorgängiger Verdopplung derselben</hi>, und so, dass<lb/>
immer die eine der Zwillings-Determinanten braun blieb, und dass<lb/>
eine Einrichtung getroffen wurde, welche ihnen nur alternirend<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[470/0494]
Sexualcharaktere des Hahnes an. Ich besitze eine weibliche
Ente, welche nicht mehr legt und welche die Färbung des
Enterichs angenommen hat. Beim männlichen Menschen bleibt
die Stimme hoch, weiblich, der Bart entwickelt sich nicht, wenn
in der Jugend Castration vorgenommen wurde.
Offenbar zwingen diese Thatsachen zu der Annahme, dass
die Fähigkeit zur Entwickelung der weiblichen sekundären
Charaktere im Körper des Männchens, die zur Entwickelung der
männlichen Charaktere im Soma des Weibchens latent ent-
halten ist, bereit unter gewissen Bedingungen hervor zu treten.
Dieser Schluss ist denn auch von Darwin bereits gezogen
worden. Man könnte an seiner Berechtigung nur insofern
zweifeln, als ein Wechsel der sekundären Geschlechtscharaktere
bei ein und demselben Individuum nur in sehr wenigen Fällen
und bei sehr wenigen Arten höherer Thiere beobachtet wurde:
bei Vögeln und Säugethieren; man könnte also Bedenken tragen,
die Schlüsse aus diesen Beobachtungen zu verallgemeinern.
Immerhin bleiben die beobachteten Fälle zu erklären, und es
muss versucht werden, sie der Theorie einzuordnen.
Ich knüpfe an ein möglichst einfaches Beispiel an. Bei
manchen Schmetterlingen aus der Familie der Lycaeniden sind
die Weibchen braun gefärbt auf der Oberseite ihrer Flügel, die
Männchen aber blau, und es lässt sich sehr wahrscheinlich
machen, dass die braune Farbe das Ursprüngliche war, wie es
ja heute noch Lycaena-Arten giebt, die in beiden Geschlechtern
braun sind. Der idioplasmatische Vorgang muss hier der ge-
wesen sein, dass die primären Determinanten jener Zellen, welche
die Flügelfarbe bedingen, sagen wir die „braunen“ Determi-
nanten, sich im Keimplasma in „blaue“ umwandelten, aber erst
nach vorgängiger Verdopplung derselben, und so, dass
immer die eine der Zwillings-Determinanten braun blieb, und dass
eine Einrichtung getroffen wurde, welche ihnen nur alternirend
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/494>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.