Es giebt nun drittens Fälle, in welchen das Kind mehr oder weniger rein das Bild des Onkels oder der Tante wiederholt, oder bei welchen dieses Bild gemischt auftritt mit den Charakteren des andern Elters. Ich kenne einen Mann, der vorwiegend einer Tante mütterlicherseits ähnlich sieht, der aber daneben noch viele allgemeine Charaktere der Familie seines Vaters aufweist.
Die idioplasmatische Erklärung dafür darf wohl darin ge- funden werden, dass die Eizelle, aus welcher der Betreffende sich entwickelte, nicht die dominirende Idantengruppe der Mutter, sondern diejenige enthielt, welche in der Ontogenese der Schwester der Mutter dominirt hatte. Das ist theoretisch sehr wohl mög- lich. Gesetzt, die Ur-Keimzellen vom Grossvater mütterlicher- seits (mp) hätten die Idanten enthalten: a b c d e f g h; die Grossmutter dagegen die Idanten i k l m n o p q, ferner: die be- fruchtete Eizelle, aus welcher die Mutter hervorging, hätte ent- halten die Idanten a b c d x i k l m, diejenige, aus welcher die Tante hervorging, dagegen die Idanten a b c f x l n o p. Gesetzt ferner, die dominirende Idantengruppe in der Ontogenese der Tante seien die fettgedruckten Idanten a b c und l gewesen, so leuchtet ein, dass dieselbe Combination a b c l auch aus dem Keimplasma der Mutter mittelst Reductionstheilung hervorgehen kann, da sie alle vier im Keimplasma der Mutter a b c d x i k l m enthalten sind. Ob nun dieser Fall in solcher Reinheit vor- komme, kann wohl bezweifelt werden; ich kenne keinen der- artigen Vererbungsfall, der die Annahme verlangte; die Ähn- lichkeit ist immer nur eine unvollständige.
Ein vierter Fall ist der, in welchem das Kind weder Vater oder Mutter entschieden gleicht, noch ein erkennbares Gemisch beider ist, in welchem es auch nicht einem der vier Grosseltern entschieden gleicht, sondern eine ganz neue Combination von Eigenschaften darstellt. Niemals wohl verleugnet ein solches
Es giebt nun drittens Fälle, in welchen das Kind mehr oder weniger rein das Bild des Onkels oder der Tante wiederholt, oder bei welchen dieses Bild gemischt auftritt mit den Charakteren des andern Elters. Ich kenne einen Mann, der vorwiegend einer Tante mütterlicherseits ähnlich sieht, der aber daneben noch viele allgemeine Charaktere der Familie seines Vaters aufweist.
Die idioplasmatische Erklärung dafür darf wohl darin ge- funden werden, dass die Eizelle, aus welcher der Betreffende sich entwickelte, nicht die dominirende Idantengruppe der Mutter, sondern diejenige enthielt, welche in der Ontogenese der Schwester der Mutter dominirt hatte. Das ist theoretisch sehr wohl mög- lich. Gesetzt, die Ur-Keimzellen vom Grossvater mütterlicher- seits (mp) hätten die Idanten enthalten: a b c d e f g h; die Grossmutter dagegen die Idanten i k l m n o p q, ferner: die be- fruchtete Eizelle, aus welcher die Mutter hervorging, hätte ent- halten die Idanten a b c d × i k l m, diejenige, aus welcher die Tante hervorging, dagegen die Idanten a b c f × l n o p. Gesetzt ferner, die dominirende Idantengruppe in der Ontogenese der Tante seien die fettgedruckten Idanten a b c und l gewesen, so leuchtet ein, dass dieselbe Combination a b c l auch aus dem Keimplasma der Mutter mittelst Reductionstheilung hervorgehen kann, da sie alle vier im Keimplasma der Mutter a b c d × i k l m enthalten sind. Ob nun dieser Fall in solcher Reinheit vor- komme, kann wohl bezweifelt werden; ich kenne keinen der- artigen Vererbungsfall, der die Annahme verlangte; die Ähn- lichkeit ist immer nur eine unvollständige.
Ein vierter Fall ist der, in welchem das Kind weder Vater oder Mutter entschieden gleicht, noch ein erkennbares Gemisch beider ist, in welchem es auch nicht einem der vier Grosseltern entschieden gleicht, sondern eine ganz neue Combination von Eigenschaften darstellt. Niemals wohl verleugnet ein solches
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0437"n="413"/><p>Es giebt nun <hirendition="#g">drittens</hi> Fälle, in welchen das Kind mehr<lb/>
oder weniger rein <hirendition="#g">das Bild des Onkels oder der Tante</hi><lb/>
wiederholt, oder bei welchen dieses Bild gemischt auftritt mit<lb/>
den Charakteren des andern Elters. Ich kenne einen Mann,<lb/>
der vorwiegend einer Tante mütterlicherseits ähnlich sieht, der<lb/>
aber daneben noch viele allgemeine Charaktere der Familie<lb/>
seines Vaters aufweist.</p><lb/><p>Die idioplasmatische Erklärung dafür darf wohl darin ge-<lb/>
funden werden, dass die Eizelle, aus welcher der Betreffende<lb/>
sich entwickelte, nicht die dominirende Idantengruppe der Mutter,<lb/>
sondern diejenige enthielt, welche in der Ontogenese der Schwester<lb/>
der Mutter dominirt hatte. Das ist theoretisch sehr wohl mög-<lb/>
lich. Gesetzt, die Ur-Keimzellen vom Grossvater mütterlicher-<lb/>
seits (mp) hätten die Idanten enthalten: a b c d e f g h; die<lb/>
Grossmutter dagegen die Idanten i k l m n o p q, ferner: die be-<lb/>
fruchtete Eizelle, aus welcher die Mutter hervorging, hätte ent-<lb/>
halten die Idanten a b c d × i k l m, diejenige, aus welcher die<lb/>
Tante hervorging, dagegen die Idanten <hirendition="#b">a b c</hi> f × <hirendition="#b">l</hi> n o p. Gesetzt<lb/>
ferner, die dominirende Idantengruppe in der Ontogenese der<lb/>
Tante seien die fettgedruckten Idanten <hirendition="#b">a b c</hi> und <hirendition="#b">l</hi> gewesen, so<lb/>
leuchtet ein, dass dieselbe Combination <hirendition="#b">a b c l</hi> auch aus dem<lb/>
Keimplasma der Mutter mittelst Reductionstheilung hervorgehen<lb/>
kann, da sie alle vier im Keimplasma der Mutter <hirendition="#b">a b c</hi> d × i k <hirendition="#b">l</hi> m<lb/>
enthalten sind. Ob nun dieser Fall in solcher Reinheit vor-<lb/>
komme, kann wohl bezweifelt werden; ich kenne keinen der-<lb/>
artigen Vererbungsfall, der die Annahme verlangte; die Ähn-<lb/>
lichkeit ist immer nur eine unvollständige.</p><lb/><p>Ein vierter Fall ist der, in welchem das Kind weder Vater<lb/>
oder Mutter entschieden gleicht, noch ein erkennbares Gemisch<lb/>
beider ist, in welchem es auch nicht einem der vier Grosseltern<lb/>
entschieden gleicht, sondern eine ganz neue Combination von<lb/>
Eigenschaften darstellt. Niemals wohl verleugnet ein solches<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[413/0437]
Es giebt nun drittens Fälle, in welchen das Kind mehr
oder weniger rein das Bild des Onkels oder der Tante
wiederholt, oder bei welchen dieses Bild gemischt auftritt mit
den Charakteren des andern Elters. Ich kenne einen Mann,
der vorwiegend einer Tante mütterlicherseits ähnlich sieht, der
aber daneben noch viele allgemeine Charaktere der Familie
seines Vaters aufweist.
Die idioplasmatische Erklärung dafür darf wohl darin ge-
funden werden, dass die Eizelle, aus welcher der Betreffende
sich entwickelte, nicht die dominirende Idantengruppe der Mutter,
sondern diejenige enthielt, welche in der Ontogenese der Schwester
der Mutter dominirt hatte. Das ist theoretisch sehr wohl mög-
lich. Gesetzt, die Ur-Keimzellen vom Grossvater mütterlicher-
seits (mp) hätten die Idanten enthalten: a b c d e f g h; die
Grossmutter dagegen die Idanten i k l m n o p q, ferner: die be-
fruchtete Eizelle, aus welcher die Mutter hervorging, hätte ent-
halten die Idanten a b c d × i k l m, diejenige, aus welcher die
Tante hervorging, dagegen die Idanten a b c f × l n o p. Gesetzt
ferner, die dominirende Idantengruppe in der Ontogenese der
Tante seien die fettgedruckten Idanten a b c und l gewesen, so
leuchtet ein, dass dieselbe Combination a b c l auch aus dem
Keimplasma der Mutter mittelst Reductionstheilung hervorgehen
kann, da sie alle vier im Keimplasma der Mutter a b c d × i k l m
enthalten sind. Ob nun dieser Fall in solcher Reinheit vor-
komme, kann wohl bezweifelt werden; ich kenne keinen der-
artigen Vererbungsfall, der die Annahme verlangte; die Ähn-
lichkeit ist immer nur eine unvollständige.
Ein vierter Fall ist der, in welchem das Kind weder Vater
oder Mutter entschieden gleicht, noch ein erkennbares Gemisch
beider ist, in welchem es auch nicht einem der vier Grosseltern
entschieden gleicht, sondern eine ganz neue Combination von
Eigenschaften darstellt. Niemals wohl verleugnet ein solches
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/437>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.