Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

herrschen können. Beim Menschen lässt sich dies begreiflicher-
weise nicht nachweisen, da die metamerale Gliederung sich auf
Knochen, Muskeln und Nerven beziehen, die äusserlich nicht
sichtbar sind. Dass aber hintereinander folgende Theile, selbst
wenn sie homolog sind, gelegentlich ein anderes Vererbungs-
bild liefern können, glaube ich beobachtet zu haben. Die Arme
eines Kindes nebst den Händen können rein mütterlich, und
dennoch die Beine und Füsse rein väterlich sein. Ich habe mich
bemüht, irgend welche Regeln aufzufinden, nach welchen gewisse
der Ontogenese nach zusammenhängende Organe auch gleiche
elterliche Mischung zeigen möchten, allein ich habe, ausge-
nommen die Symmetrie der Körperhälften, nichts Sicheres finden
können. Es scheint, dass hier alle Möglichkeiten auch Wirk-
lichkeit werden können. Die Schädelform kann väterlich, das
Gesicht mütterlich sein; die ganze Kopf- und Gesichtsform kann
mütterlich und dennoch die Augen in ihrer ganzen Bildung
väterlich sein. Das Grübchen im Kinn, welches der Vater be-
sitzt, kann sich im Sohn wiederfinden, obwohl derselbe in Ge-
sichtsform und Nase der Mutter viel ähnlicher ist, als dem Vater.
Die Mischung der Eltern-Merkmale kann aber noch weit mehr
ins Einzelne gehen, wie besonders die merkwürdige Verquickung
elterlicher Geistesgaben andeutet. Es kann der Intellekt von
der Mutter, das Wollen vom Vater stammen, die dichterische
Begabung von der Mutter, Selbstlosigkeit vom Vater sich mit-
einander verbinden, und Alles dies in einem Schädel enthalten
sein, dessen Form wesentlich nur dem einen der Eltern gleicht.
Gewiss aber sind diese Mischungen elterlicher Geistesmerkmale
nicht immer leicht und nicht immer ganz sicher festzustellen,
besonders auch weil diese geistigen Charaktere nicht immer
in entgegengesetztem Sinne bei den Eltern entwickelt sind,
sondern oft nur in Abstufungen. Aber so viel dürfte doch als
sicher betrachtet werden, dass das Gehirn selten blos dem

herrschen können. Beim Menschen lässt sich dies begreiflicher-
weise nicht nachweisen, da die metamerale Gliederung sich auf
Knochen, Muskeln und Nerven beziehen, die äusserlich nicht
sichtbar sind. Dass aber hintereinander folgende Theile, selbst
wenn sie homolog sind, gelegentlich ein anderes Vererbungs-
bild liefern können, glaube ich beobachtet zu haben. Die Arme
eines Kindes nebst den Händen können rein mütterlich, und
dennoch die Beine und Füsse rein väterlich sein. Ich habe mich
bemüht, irgend welche Regeln aufzufinden, nach welchen gewisse
der Ontogenese nach zusammenhängende Organe auch gleiche
elterliche Mischung zeigen möchten, allein ich habe, ausge-
nommen die Symmetrie der Körperhälften, nichts Sicheres finden
können. Es scheint, dass hier alle Möglichkeiten auch Wirk-
lichkeit werden können. Die Schädelform kann väterlich, das
Gesicht mütterlich sein; die ganze Kopf- und Gesichtsform kann
mütterlich und dennoch die Augen in ihrer ganzen Bildung
väterlich sein. Das Grübchen im Kinn, welches der Vater be-
sitzt, kann sich im Sohn wiederfinden, obwohl derselbe in Ge-
sichtsform und Nase der Mutter viel ähnlicher ist, als dem Vater.
Die Mischung der Eltern-Merkmale kann aber noch weit mehr
ins Einzelne gehen, wie besonders die merkwürdige Verquickung
elterlicher Geistesgaben andeutet. Es kann der Intellekt von
der Mutter, das Wollen vom Vater stammen, die dichterische
Begabung von der Mutter, Selbstlosigkeit vom Vater sich mit-
einander verbinden, und Alles dies in einem Schädel enthalten
sein, dessen Form wesentlich nur dem einen der Eltern gleicht.
Gewiss aber sind diese Mischungen elterlicher Geistesmerkmale
nicht immer leicht und nicht immer ganz sicher festzustellen,
besonders auch weil diese geistigen Charaktere nicht immer
in entgegengesetztem Sinne bei den Eltern entwickelt sind,
sondern oft nur in Abstufungen. Aber so viel dürfte doch als
sicher betrachtet werden, dass das Gehirn selten blos dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0401" n="377"/>
herrschen können. Beim Menschen lässt sich dies begreiflicher-<lb/>
weise nicht nachweisen, da die metamerale Gliederung sich auf<lb/>
Knochen, Muskeln und Nerven beziehen, die äusserlich nicht<lb/>
sichtbar sind. Dass aber hintereinander folgende Theile, selbst<lb/>
wenn sie homolog sind, gelegentlich ein anderes Vererbungs-<lb/>
bild liefern können, glaube ich beobachtet zu haben. Die Arme<lb/>
eines Kindes nebst den Händen können rein mütterlich, und<lb/>
dennoch die Beine und Füsse rein väterlich sein. Ich habe mich<lb/>
bemüht, irgend welche Regeln aufzufinden, nach welchen gewisse<lb/>
der Ontogenese nach zusammenhängende Organe auch gleiche<lb/>
elterliche Mischung zeigen möchten, allein ich habe, ausge-<lb/>
nommen die Symmetrie der Körperhälften, nichts Sicheres finden<lb/>
können. Es scheint, dass hier alle Möglichkeiten auch Wirk-<lb/>
lichkeit werden können. Die Schädelform kann väterlich, das<lb/>
Gesicht mütterlich sein; die ganze Kopf- und Gesichtsform kann<lb/>
mütterlich und dennoch die Augen in ihrer ganzen Bildung<lb/>
väterlich sein. Das Grübchen im Kinn, welches der Vater be-<lb/>
sitzt, kann sich im Sohn wiederfinden, obwohl derselbe in Ge-<lb/>
sichtsform und Nase der Mutter viel ähnlicher ist, als dem Vater.<lb/>
Die Mischung der Eltern-Merkmale kann aber noch weit mehr<lb/>
ins Einzelne gehen, wie besonders die merkwürdige Verquickung<lb/>
elterlicher Geistesgaben andeutet. Es kann der Intellekt von<lb/>
der Mutter, das Wollen vom Vater stammen, die dichterische<lb/>
Begabung von der Mutter, Selbstlosigkeit vom Vater sich mit-<lb/>
einander verbinden, und Alles dies in einem Schädel enthalten<lb/>
sein, dessen Form wesentlich nur dem <hi rendition="#g">einen</hi> der Eltern gleicht.<lb/>
Gewiss aber sind diese Mischungen elterlicher Geistesmerkmale<lb/>
nicht immer leicht und nicht immer ganz sicher festzustellen,<lb/>
besonders auch weil diese geistigen Charaktere nicht immer<lb/>
in entgegengesetztem Sinne bei den Eltern entwickelt sind,<lb/>
sondern oft nur in Abstufungen. Aber so viel dürfte doch als<lb/>
sicher betrachtet werden, dass <hi rendition="#g">das Gehirn selten blos dem<lb/></hi></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[377/0401] herrschen können. Beim Menschen lässt sich dies begreiflicher- weise nicht nachweisen, da die metamerale Gliederung sich auf Knochen, Muskeln und Nerven beziehen, die äusserlich nicht sichtbar sind. Dass aber hintereinander folgende Theile, selbst wenn sie homolog sind, gelegentlich ein anderes Vererbungs- bild liefern können, glaube ich beobachtet zu haben. Die Arme eines Kindes nebst den Händen können rein mütterlich, und dennoch die Beine und Füsse rein väterlich sein. Ich habe mich bemüht, irgend welche Regeln aufzufinden, nach welchen gewisse der Ontogenese nach zusammenhängende Organe auch gleiche elterliche Mischung zeigen möchten, allein ich habe, ausge- nommen die Symmetrie der Körperhälften, nichts Sicheres finden können. Es scheint, dass hier alle Möglichkeiten auch Wirk- lichkeit werden können. Die Schädelform kann väterlich, das Gesicht mütterlich sein; die ganze Kopf- und Gesichtsform kann mütterlich und dennoch die Augen in ihrer ganzen Bildung väterlich sein. Das Grübchen im Kinn, welches der Vater be- sitzt, kann sich im Sohn wiederfinden, obwohl derselbe in Ge- sichtsform und Nase der Mutter viel ähnlicher ist, als dem Vater. Die Mischung der Eltern-Merkmale kann aber noch weit mehr ins Einzelne gehen, wie besonders die merkwürdige Verquickung elterlicher Geistesgaben andeutet. Es kann der Intellekt von der Mutter, das Wollen vom Vater stammen, die dichterische Begabung von der Mutter, Selbstlosigkeit vom Vater sich mit- einander verbinden, und Alles dies in einem Schädel enthalten sein, dessen Form wesentlich nur dem einen der Eltern gleicht. Gewiss aber sind diese Mischungen elterlicher Geistesmerkmale nicht immer leicht und nicht immer ganz sicher festzustellen, besonders auch weil diese geistigen Charaktere nicht immer in entgegengesetztem Sinne bei den Eltern entwickelt sind, sondern oft nur in Abstufungen. Aber so viel dürfte doch als sicher betrachtet werden, dass das Gehirn selten blos dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/401
Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/401>, abgerufen am 22.11.2024.