Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_089.001 Die klarsten Formeln hat hier wohl Emil Staiger gefunden. Wenn die pwe_089.002 Reine Tragik ist, als reines Scheitern, tödlich, ist Selbstzerstörung des unerbittlich pwe_089.019 pwe_089.028 Mindestens liegt die Gefahr nahe, daß umgekehrt nihilistische Haltungen pwe_089.029 1 pwe_089.039
Arthur Pfeiffer, Ursprung und Gestalt des Dramas. Studien zu einer Phänomenologie pwe_089.040 der Dichtkunst und Morphologie des Dramas. Berlin 1943. pwe_089.001 Die klarsten Formeln hat hier wohl Emil Staiger gefunden. Wenn die pwe_089.002 Reine Tragik ist, als reines Scheitern, tödlich, ist Selbstzerstörung des unerbittlich pwe_089.019 pwe_089.028 Mindestens liegt die Gefahr nahe, daß umgekehrt nihilistische Haltungen pwe_089.029 1 pwe_089.039
Arthur Pfeiffer, Ursprung und Gestalt des Dramas. Studien zu einer Phänomenologie pwe_089.040 der Dichtkunst und Morphologie des Dramas. Berlin 1943. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0095" n="89"/> <lb n="pwe_089.001"/> <p> Die klarsten Formeln hat hier wohl <hi rendition="#k">Emil Staiger</hi> gefunden. Wenn die <lb n="pwe_089.002"/> „Spannung“ des Dramatischen darauf beruht, daß „der Mensch als solcher <lb n="pwe_089.003"/> sich immer voraus ist“, und wenn in dieser Spannung alles Einzelne auf ein <lb n="pwe_089.004"/> Letztes bezogen ist und in steter Bewegung hindrängt, treibt das Dramatische <lb n="pwe_089.005"/> zur Krise. „Das Tragische ereignet sich, wenn das, worum es in einem <lb n="pwe_089.006"/> letzten allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches Dasein ankommt, <lb n="pwe_089.007"/> zerbricht. Im Tragischen, anders ausgedrückt, wird der Rahmen <lb n="pwe_089.008"/> der Welt (im Heideggerschen Sinne) eines Menschen oder wohl gar eines <lb n="pwe_089.009"/> Volkes oder Standes gesprengt“. Der auf das Absolute blickende Held wird <lb n="pwe_089.010"/> „aus dem Hinterhalt“ überfallen, seine „Endlichkeit“ fällt ihn, sie ist das, <lb n="pwe_089.011"/> was allenfalls als „tragische Schuld“ bezeichnet wird. Anderseits aber eröffnet <lb n="pwe_089.012"/> das menschliche Geschick der Endlichkeit einen unerwarteten Ausweg: <lb n="pwe_089.013"/> den Ausweg ins „Behagen des Komischen“. Hier wird nicht der Rahmen <lb n="pwe_089.014"/> einer Welt gesprengt, sondern das Komische „fällt aus dem Rahmen <lb n="pwe_089.015"/> einer Welt heraus“ und „besteht außerhalb des Rahmens in selbstverständlicher, <lb n="pwe_089.016"/> fragloser Weise“. Die Spannung reißt nicht, sondern wird plötzlich <lb n="pwe_089.017"/> unnötig.</p> <lb n="pwe_089.018"/> <p> Reine Tragik ist, als reines Scheitern, tödlich, ist Selbstzerstörung des unerbittlich <lb n="pwe_089.019"/> konsequenten Geistes. Das ist aber, nach <hi rendition="#k">Staiger,</hi> in der Dichtung <lb n="pwe_089.020"/> nicht rein oder unmittelbar dargestellt. Die Tragödie kennt meistens <lb n="pwe_089.021"/> eine sogenannte „<hi rendition="#i">Versöhnung</hi>“, den Eingang in einen gnadenhaften Zustand; <lb n="pwe_089.022"/> der Dichter sprengt eine Welt – „weil sich ihm das Dasein in <lb n="pwe_089.023"/> einer weiteren Welt zusammenfügt“. Der tragische Untergang wird zum <lb n="pwe_089.024"/> Übergang. In <hi rendition="#k">Staigers</hi> Definition gehört diese Versohnung nicht zur Tragik <lb n="pwe_089.025"/> selbst, ist ein vorläufiges Ende, ein Ermatten, weil eben auch der Dichter <lb n="pwe_089.026"/> nicht über ein Endliches hinauskommt. Wäre damit reine Tragik Verzweiflung?</p> <lb n="pwe_089.027"/> <lb n="pwe_089.028"/> <p> Mindestens liegt die Gefahr nahe, daß umgekehrt nihilistische Haltungen <lb n="pwe_089.029"/> im Gedanken des Tragischen einen Halt zu finden hoffen und damit das <lb n="pwe_089.030"/> Tragische aus der Not zur freiwilligen Tugend machen wollen. So ist <hi rendition="#k">Ar- <lb n="pwe_089.031"/> thur Pfeiffers</hi><note xml:id="PWE_089_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_089.039"/> Arthur Pfeiffer, <hi rendition="#i">Ursprung und Gestalt des Dramas. Studien zu einer Phänomenologie <lb n="pwe_089.040"/> der Dichtkunst und Morphologie des Dramas.</hi> Berlin 1943.</note> Buch ein Beispiel pathetischen Feierns tragischer Gesinnung, <lb n="pwe_089.032"/> verkündet im Geiste Nietzsches und eines deutschen Existentialismus <lb n="pwe_089.033"/> die Religion des heldischen Tatmenschen und seiner Selbstbestimmung im <lb n="pwe_089.034"/> Schicksal. Das Dramatische, die „dramatische Wirklichkeit“, wird deshalb <lb n="pwe_089.035"/> nicht als dramatischer Konflikt, sondern als Existenzspannung bezeichnet, <lb n="pwe_089.036"/> als „Zusammensein von Lebensgegensätzen bis in die tiefste Wurzel der jeweiligen <lb n="pwe_089.037"/> Gestalten oder Situationen oder Wirklichkeiten hinab“; durch seine <lb n="pwe_089.038"/> Wertbezogenheit (Werte, Zwecke, Ideen) erhält es den Charakter des Tragischen. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0095]
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Die klarsten Formeln hat hier wohl Emil Staiger gefunden. Wenn die pwe_089.002
„Spannung“ des Dramatischen darauf beruht, daß „der Mensch als solcher pwe_089.003
sich immer voraus ist“, und wenn in dieser Spannung alles Einzelne auf ein pwe_089.004
Letztes bezogen ist und in steter Bewegung hindrängt, treibt das Dramatische pwe_089.005
zur Krise. „Das Tragische ereignet sich, wenn das, worum es in einem pwe_089.006
letzten allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches Dasein ankommt, pwe_089.007
zerbricht. Im Tragischen, anders ausgedrückt, wird der Rahmen pwe_089.008
der Welt (im Heideggerschen Sinne) eines Menschen oder wohl gar eines pwe_089.009
Volkes oder Standes gesprengt“. Der auf das Absolute blickende Held wird pwe_089.010
„aus dem Hinterhalt“ überfallen, seine „Endlichkeit“ fällt ihn, sie ist das, pwe_089.011
was allenfalls als „tragische Schuld“ bezeichnet wird. Anderseits aber eröffnet pwe_089.012
das menschliche Geschick der Endlichkeit einen unerwarteten Ausweg: pwe_089.013
den Ausweg ins „Behagen des Komischen“. Hier wird nicht der Rahmen pwe_089.014
einer Welt gesprengt, sondern das Komische „fällt aus dem Rahmen pwe_089.015
einer Welt heraus“ und „besteht außerhalb des Rahmens in selbstverständlicher, pwe_089.016
fragloser Weise“. Die Spannung reißt nicht, sondern wird plötzlich pwe_089.017
unnötig.
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Reine Tragik ist, als reines Scheitern, tödlich, ist Selbstzerstörung des unerbittlich pwe_089.019
konsequenten Geistes. Das ist aber, nach Staiger, in der Dichtung pwe_089.020
nicht rein oder unmittelbar dargestellt. Die Tragödie kennt meistens pwe_089.021
eine sogenannte „Versöhnung“, den Eingang in einen gnadenhaften Zustand; pwe_089.022
der Dichter sprengt eine Welt – „weil sich ihm das Dasein in pwe_089.023
einer weiteren Welt zusammenfügt“. Der tragische Untergang wird zum pwe_089.024
Übergang. In Staigers Definition gehört diese Versohnung nicht zur Tragik pwe_089.025
selbst, ist ein vorläufiges Ende, ein Ermatten, weil eben auch der Dichter pwe_089.026
nicht über ein Endliches hinauskommt. Wäre damit reine Tragik Verzweiflung?
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Mindestens liegt die Gefahr nahe, daß umgekehrt nihilistische Haltungen pwe_089.029
im Gedanken des Tragischen einen Halt zu finden hoffen und damit das pwe_089.030
Tragische aus der Not zur freiwilligen Tugend machen wollen. So ist Ar- pwe_089.031
thur Pfeiffers 1 Buch ein Beispiel pathetischen Feierns tragischer Gesinnung, pwe_089.032
verkündet im Geiste Nietzsches und eines deutschen Existentialismus pwe_089.033
die Religion des heldischen Tatmenschen und seiner Selbstbestimmung im pwe_089.034
Schicksal. Das Dramatische, die „dramatische Wirklichkeit“, wird deshalb pwe_089.035
nicht als dramatischer Konflikt, sondern als Existenzspannung bezeichnet, pwe_089.036
als „Zusammensein von Lebensgegensätzen bis in die tiefste Wurzel der jeweiligen pwe_089.037
Gestalten oder Situationen oder Wirklichkeiten hinab“; durch seine pwe_089.038
Wertbezogenheit (Werte, Zwecke, Ideen) erhält es den Charakter des Tragischen.
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