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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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und mit praktischer Absicht, A. R. Thompson1) bezeichnet worden. pwe_085.002
Weniger vielleicht in einem historisch-entwicklungsmäßigen Sinne als in pwe_085.003
dem systematischen, daß die Dichtung vom Grund des Lyrischen, Monologischen pwe_085.004
als ihrer Urform aufsteigt zur breiten, ruhigen Welt des Epischen, pwe_085.005
und schließlich zur ideell und existentiell gespannten dramatischen Kunst, pwe_085.006
in der die geistigsten, umfassendsten Funktionen und Entscheidungen des pwe_085.007
Menschen zum Vollzug kommen, und wo in der tragischen oder komischen pwe_085.008
Auflösung letzte mögliche Grenzen des Daseins erreicht sind. (Vgl. E. Stai- pwe_085.009
ger
S. 224 ff.). Wenn der Roman eine Art Experimentierfeld des abenteuerlichen pwe_085.010
abendländischen Geistes ist, so vollzieht sich im Drama und pwe_085.011
speziell in der Tragödie sein Schicksal. "Vollziehen" auch insofern, als das pwe_085.012
Dramatische im Drama selber agiert wird, sich zwar praktisch in der späten pwe_085.013
Abstraktion eines Lesedramas literarisch verselbständigt, aber im wesentlichen pwe_085.014
doch nach der Darstellung, nach der theatralischen Handlung pwe_085.015
strebt. Umgekehrt gesagt: das Drama hat sich weniger als Lyrik oder Epos pwe_085.016
von der sozialen, politischen, magischen, religiösen Funktion gelöst, und das pwe_085.017
gestaltende und distanzierende Wort kann immer wieder vor der reinen pwe_085.018
Handlung zurücktreten, ja verstummen. So reicht die Welt des Dramas pwe_085.019
als Feier und Spiel, als Mimus und Theater, weit über das Literarische hinaus. pwe_085.020
Dichtung und Theater haben unter Umständen ein problematisches pwe_085.021
Verhältnis2. Man kann zwar, und auch Petsch tut es, das "dramatische pwe_085.022
Spiel" als die "Urform" des Dramas bezeichnen, und das Spiel noch auf pwe_085.023
vordramatische Formen (Feier, kultische Handlung) zurückführen; aber das pwe_085.024
"eigentlich" Dramatische als geistige Spannung und Entscheidung hat oft pwe_085.025
wenig damit zu tun. Das Mittelalter etwa kennt daher in diesem strengen pwe_085.026
Sinne kaum ein Drama - das haben erneut die zusammenfassenden Darstellungen pwe_085.027
von Young3 oder Hartl4 gezeigt, - und so sehr in der antiken pwe_085.028
Tragödie diese Ur-Funktion des kultischen Spieles noch mitbeteiligt ist, pwe_085.029
die ungeheure Tat des Aeschylus ereignet sich auf anderem Boden. Man pwe_085.030
hat so, um dem Wesen des Dramatischen nahe zu kommen, diese nach dem pwe_085.031
Theatralisch-Spielmäßigen oder letztlich "Kultischen" weisenden Feiern pwe_085.032
Spiele, Schauspiele, ausgeschieden aus dem Bereich des eigentlichen Dramatischen pwe_085.033
und des geistesgeladenen, gespannten Wortes, und hat damit diesem pwe_085.034
zugleich die strenge Alternative Tragödie oder Komödie gerettet. pwe_085.035
Ob jene dritte Form neben Komödie und Tragödie, das Spiel oder das

1 pwe_085.036
Alan Reynolds Thompson, The Anatomy of Drama. 2nd ed. Berkeley-Los pwe_085.037
Angeles 1946.
2 pwe_085.038
Ronald Peacock, The Poet in the Theatre. (Essays) London (1946).
3 pwe_085.039
Karl Young, The Drama of the Medieval Church. 2 vols. Oxford 1933.
4 pwe_085.040
Eduard Hartl, Das Drama des Mittelalters (in: Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, pwe_085.041
4 Bde.), Leipzig 1937-1942.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/91>, abgerufen am 22.11.2024.