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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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Phänomen gleichsam an der Quelle zeigt; von ihr aus werden erst pwe_078.002
die zu größeren Strukturen ausgebauten und verfestigten epischen und dramatischen pwe_078.003
Dichtungen zugänglich. Dieser Gedanke liegt den Beschreibungen pwe_078.004
von Kommerell1 und von Staiger oder Schwarz zugrunde und meist pwe_078.005
auch den zahllosen Interpretationen - etwa bei Burger -, die sich das pwe_078.006
einzelne lyrische Gedicht als bequemsten Zugang zur Erläuterung des pwe_078.007
"Wesens" Dichtung wählen. Aber dies ist eine wesensmäßige, nicht eine pwe_078.008
geschichtlich-entwicklungsmäßige Ursprünglichkeit. Denn die "Innerlichkeit"2, pwe_078.009
die Seelenhaftigkeit, die Spontaneität der Lyrik, wie sie heute in pwe_078.010
den Mittelpunkt gerückt werden, sind erst auf später geschichtlicher Stufe pwe_078.011
deutlich. Gerade die primitiven Formen der Lyrik (wie sie etwa Andreas pwe_078.012
Heusler
3 in der altgermanischen Literatur unterschied, unter erfolgreireicher pwe_078.013
heuristischer Verwendung des Begriffs von der Gattung als einem pwe_078.014
Formgebilde, oder wie sie systematisch Petsch4 beschreibt), haben am pwe_078.015
wenigsten "Lyrisches", sind eingespannt in eine feste Funktion, - als pwe_078.016
"Vorform" (Petsch) der Volksdichtung noch unabgelöst von praktischen pwe_078.017
Verrichtungen, als "Frühform" festgelegt an Ort und Gelegenheit, in bestimmter pwe_078.018
sozialer Übung. Gerade Kommerell zeigt, daß das, was heute das pwe_078.019
Wesen der Lyrik ausmacht, mit einem Wort das Liedhafte, im Deutschen pwe_078.020
erst spät aus dem Verlust jener sozialen Funktion entstand, daß erst aus pwe_078.021
dieser "schöpferischen Verlegenheit" in der Goethe-Zeit das lyrische Gedicht pwe_078.022
"spontan" wurde, sich "selbst bestimmen lernte" und "fortan nur noch der pwe_078.023
unwiederholbaren Schwingung der Seele, die es enthielt", gehorchte. Es nahm pwe_078.024
die das Lied ursprünglich begleitende Musik gleichsam in sich hinein.

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Damit ist auch bereits ein Ansatz zu weiterer Unterteilung der Lyrik pwe_078.026
gegeben. Günther Müllers5 morphologische Erwägungen führen zu den pwe_078.027
zwei Haupttypen des sinnenhaften, singenden, malenden, lösenden Liedes, pwe_078.028
und der geistigen, sprechenden, zeichnenden, spannenden Ode. Dazwischen pwe_078.029
ordnet er weniger scharf unterscheidbare Formen an: den "Gesang" pwe_078.030
in die Nähe des Liedes, aber in der Richtung auf die Ode, und die pwe_078.031
Spruchdichtung (in einem allgemeinen Sinn) in die Nähe der Ode, aber mit

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Max Kommerell, Vom Wesen des lyrischen Gedichts (In: Gedanken über pwe_078.033
Gedichte s. o.).
2 pwe_078.034
Johann Brändle, Das Problem der Innerlichkeit; Hamann, Herder, Goethe, pwe_078.035
Bern 1950.
3 pwe_078.036
Andreas Heusler, Altgermanische Dichtung. 2. Aufl., Potsdam 1941.
4 pwe_078.037
Robert Petsch, Spruchdichtung des Volkes. Vor- und Frühformen der Volksdichtung. pwe_078.038
Ruf, Zauber- und Weisheitsspruch, Rätsel, Volks- und Kinderreim
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(Volk. Grundriß der deutschen Volkskunde Bd. 4, Halle 1938).
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Günther Müller, Die Grundformen der deutschen Lyrik (Von deutscher Art pwe_078.041
in Sprache und Dichtung Bd. 5, Berlin 1941, 95 ff.).

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/84>, abgerufen am 21.11.2024.