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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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Im Zusammenhang mit dem Gestaltbegriff ist noch ein weiterer Aspekt pwe_069.002
zu erwähnen, der dem des Gestalthaften und darüber hinaus dem Wesen pwe_069.003
der Dichtung überhaupt zugeordnet zu werden pflegt: der Symbolcharakter pwe_069.004
der Dichtung, wie er ebenfalls von der deutschen Klassik pwe_069.005
ergründet wurde und nach Goethe "eigentlich die Natur der Poesie" darstellt1. pwe_069.006
Es ist in letzter Zeit stiller geworden um diesen vielseitigen und pwe_069.007
darum problematischen Begriff des Symbols, der außerhalb der Literatur, pwe_069.008
vor allem in der Psychologie, neue Inhalte gefunden hat, anderseits in der pwe_069.009
Literatur selbst im Zusammenhang mit dem französischen "Symbolismus"2 pwe_069.010
seines ursprünglichen Sinnes weitgehend entkleidet wurde. Der pwe_069.011
Symbolbegriff scheint entbehrlich zu werden, wenn man das Kunstwerk pwe_069.012
nicht mehr als Ausdruck oder "Form" irgendeines Gehaltes, sondern als in pwe_069.013
sich ruhendes Werkgebilde verstehen will, und wenn man Dichtung nicht pwe_069.014
mehr ohne weiteres gleichsetzt mit dem Ausdruckssystem der Sprache pwe_069.015
schlechthin. Denn der Name Symbol scheint als sein Korrelat ein Symbolisiertes pwe_069.016
vorauszusetzen - der Dichter gibt etwa nach Emil Ermatinger pwe_069.017
"ein Bild des Sinnes ... den er in der Wirklichkeit gefunden hat" - und pwe_069.018
damit die autonome Würde des Kunstwerkes zu verletzen. Diese heute pwe_069.019
unbeliebte Konsequenz, d. h. schließlich die Form-Inhalt-Aufspaltung, erscheint pwe_069.020
hier noch deutlicher als beim Begriff der Gestalt, der ja z. T. ebenfalls pwe_069.021
auf einen gestalteten "Gehalt" bezogen war. Dagegen ist wieder zu pwe_069.022
sagen, daß es trotz allem Werkcharakter zum Wesen der Dichtung gehört, pwe_069.023
auch über sich hinauszuweisen, daß also schon darum der Symbolbegriff pwe_069.024
auch in einer richtig verstandenen Werkpoetik Platz finden könnte; Symbol pwe_069.025
bedeutet ja gegenüber andern Bedeutungsverhältnissen, daß sich das pwe_069.026
Bedeutete selbst erst im Bedeutenden vollzieht, daß das Symbol nicht ersetzbar pwe_069.027
ist. Die Seinsweise von Dichtung ließe sich gerade als symbolische pwe_069.028
von der Welt realer Wirklichkeit abheben. Zudem könnte, ähnlich wie bei pwe_069.029
der Gestalt, auch von dem immanenten Symbolcharakter des Dichtwerks pwe_069.030
gesprochen werden, sofern seine Elemente (Aspekte, Stilzüge) wie Satz, pwe_069.031
Rhvthmus, Laut, Fabel etc. ihre stilistische Einheitlichkeit dadurch erhalten, pwe_069.032
daß jeder Stilzug alle andern und zugleich das Ganze repräsentiert, pwe_069.033
daß einer im andern symbolisch erscheint. Es wäre in diesem eingeschränkten pwe_069.034
Sinn eben gerade der Symbolcharakter, der die Einheit und Ganzheit pwe_069.035
namens Stil oder Gestalt konstitutiert.

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Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in pwe_069.037
Goethes Naturanschauung. (Palaestra 211)
Leipzig 1937. - Fritz Strich, Das pwe_069.038
Symbol in der Dichtung
(In: "Der Dichter und die Zeit." Bern 1947).
2 pwe_069.039
Emeric Fiser, La theorie du symbole litteraire et Marcel Proust. Paris 1941. pwe_069.040
- Louis Cazamian, Symbolisme et poesie. L'exemple anglais. Neuchatel 1947.
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  Im Zusammenhang mit dem Gestaltbegriff ist noch ein weiterer Aspekt pwe_069.002
zu erwähnen, der dem des Gestalthaften und darüber hinaus dem Wesen pwe_069.003
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ergründet wurde und nach Goethe „eigentlich die Natur der Poesie“ darstellt1. pwe_069.006
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seines ursprünglichen Sinnes weitgehend entkleidet wurde. Der pwe_069.011
Symbolbegriff scheint entbehrlich zu werden, wenn man das Kunstwerk pwe_069.012
nicht mehr als Ausdruck oder „Form“ irgendeines Gehaltes, sondern als in pwe_069.013
sich ruhendes Werkgebilde verstehen will, und wenn man Dichtung nicht pwe_069.014
mehr ohne weiteres gleichsetzt mit dem Ausdruckssystem der Sprache pwe_069.015
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der Gestalt, auch von dem immanenten Symbolcharakter des Dichtwerks pwe_069.030
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1 pwe_069.036
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Goethes Naturanschauung. (Palaestra 211)
Leipzig 1937. – Fritz Strich, Das pwe_069.038
Symbol in der Dichtung
(In: „Der Dichter und die Zeit.“ Bern 1947).
2 pwe_069.039
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[69/0075] pwe_069.001   Im Zusammenhang mit dem Gestaltbegriff ist noch ein weiterer Aspekt pwe_069.002 zu erwähnen, der dem des Gestalthaften und darüber hinaus dem Wesen pwe_069.003 der Dichtung überhaupt zugeordnet zu werden pflegt: der Symbolcharakter pwe_069.004 der Dichtung, wie er ebenfalls von der deutschen Klassik pwe_069.005 ergründet wurde und nach Goethe „eigentlich die Natur der Poesie“ darstellt 1. pwe_069.006 Es ist in letzter Zeit stiller geworden um diesen vielseitigen und pwe_069.007 darum problematischen Begriff des Symbols, der außerhalb der Literatur, pwe_069.008 vor allem in der Psychologie, neue Inhalte gefunden hat, anderseits in der pwe_069.009 Literatur selbst im Zusammenhang mit dem französischen „Symbolismus“ 2 pwe_069.010 seines ursprünglichen Sinnes weitgehend entkleidet wurde. Der pwe_069.011 Symbolbegriff scheint entbehrlich zu werden, wenn man das Kunstwerk pwe_069.012 nicht mehr als Ausdruck oder „Form“ irgendeines Gehaltes, sondern als in pwe_069.013 sich ruhendes Werkgebilde verstehen will, und wenn man Dichtung nicht pwe_069.014 mehr ohne weiteres gleichsetzt mit dem Ausdruckssystem der Sprache pwe_069.015 schlechthin. Denn der Name Symbol scheint als sein Korrelat ein Symbolisiertes pwe_069.016 vorauszusetzen – der Dichter gibt etwa nach Emil Ermatinger pwe_069.017 „ein Bild des Sinnes ... den er in der Wirklichkeit gefunden hat“ – und pwe_069.018 damit die autonome Würde des Kunstwerkes zu verletzen. Diese heute pwe_069.019 unbeliebte Konsequenz, d. h. schließlich die Form-Inhalt-Aufspaltung, erscheint pwe_069.020 hier noch deutlicher als beim Begriff der Gestalt, der ja z. T. ebenfalls pwe_069.021 auf einen gestalteten „Gehalt“ bezogen war. Dagegen ist wieder zu pwe_069.022 sagen, daß es trotz allem Werkcharakter zum Wesen der Dichtung gehört, pwe_069.023 auch über sich hinauszuweisen, daß also schon darum der Symbolbegriff pwe_069.024 auch in einer richtig verstandenen Werkpoetik Platz finden könnte; Symbol pwe_069.025 bedeutet ja gegenüber andern Bedeutungsverhältnissen, daß sich das pwe_069.026 Bedeutete selbst erst im Bedeutenden vollzieht, daß das Symbol nicht ersetzbar pwe_069.027 ist. Die Seinsweise von Dichtung ließe sich gerade als symbolische pwe_069.028 von der Welt realer Wirklichkeit abheben. Zudem könnte, ähnlich wie bei pwe_069.029 der Gestalt, auch von dem immanenten Symbolcharakter des Dichtwerks pwe_069.030 gesprochen werden, sofern seine Elemente (Aspekte, Stilzüge) wie Satz, pwe_069.031 Rhvthmus, Laut, Fabel etc. ihre stilistische Einheitlichkeit dadurch erhalten, pwe_069.032 daß jeder Stilzug alle andern und zugleich das Ganze repräsentiert, pwe_069.033 daß einer im andern symbolisch erscheint. Es wäre in diesem eingeschränkten pwe_069.034 Sinn eben gerade der Symbolcharakter, der die Einheit und Ganzheit pwe_069.035 namens Stil oder Gestalt konstitutiert. 1 pwe_069.036 Curt Müller, Die geschichtlichen Voraussetzungen des Symbolbegriffs in pwe_069.037 Goethes Naturanschauung. (Palaestra 211) Leipzig 1937. – Fritz Strich, Das pwe_069.038 Symbol in der Dichtung (In: „Der Dichter und die Zeit.“ Bern 1947). 2 pwe_069.039 Emeric Fiser, La théorie du symbole littéraire et Marcel Proust. Paris 1941. pwe_069.040 – Louis Cazamian, Symbolisme et poésie. L'exemple anglais. Neuchâtel 1947.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/75>, abgerufen am 21.11.2024.