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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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ein neuer, positiver Sinn abgewonnen; nicht zuletzt sind es Soziologie und pwe_011.002
Psychologie, die mannigfache Brücken schlagen. Wenn seit Lebensphilosophie, pwe_011.003
Phänomenologie und Existenzphilosophie der Glaube an den großen pwe_011.004
Systembau in Philosophie und Geisteswissenschaft Schiffbruch litt, so ergeben pwe_011.005
sich doch neue Möglichkeiten, wenn nicht des logisch-systematischen pwe_011.006
Denkens, so doch des Sehens und Beschreibens, und es kann an Stelle kausaler pwe_011.007
Ergründung der menschlichen Lebens- und Kulturerscheinungen ein pwe_011.008
physiognomisches Erkennen treten, wenn etwa bei Rudolf Kassner die pwe_011.009
Lehre von der Einbildungskraft zum Schlüssel einer umfassenden Erkenntnisweise pwe_011.010
eigener Art entwickelt wird1.

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Wie steht in diesen revolutionären Wandlungen des Menschenbildes und des pwe_011.012
menschlichen Lebens die Dichtung selbst? Sie ist ja nicht nur Illustration pwe_011.013
und Beleg zur Geistes- und Philosophiegeschichte, sondern zeigt in ihren Stilwandlungen pwe_011.014
mindestens gleich ursprünglich die Veränderungen an. Daß der pwe_011.015
klassische, idealistische Stil, der noch die Dichtung der großen Realisten des pwe_011.016
19. Jahrhunderts, ihre "Grundtrauer" und ihr innerstes Bedrohtsein überglänzt, pwe_011.017
sich im naturalistischen Dichten tumultuarisch auflöst, bedarf keiner pwe_011.018
Worte. Dem forcierten Sich-Versichern der Wirklichkeit, das der Dichtung pwe_011.019
immerhin noch ein gewisses soziales Pathos läßt, folgt in den dekadenten, pwe_011.020
impressionistischen oder neuromantischen Bewegungen zunächst ein Rückzug pwe_011.021
der Dichtung vom Leben. Sie ist mißtrauisch geworden gegen die pwe_011.022
Kraft des Wortes und kann nur noch hoffen, sich selbst wie die entgleitende pwe_011.023
Welt wenigstens im schwebenden Hinhören auf die Empfindungen pwe_011.024
und Gefühle zu wahren und durch diese Rücknahme der Front wenigstens pwe_011.025
das Wort reinzuhalten und ihm die Möglichkeit einer Wiedergeburt von pwe_011.026
innen zu sichern. Wenn demgegenüber eine - künstlerisch nicht allzufruchtbare pwe_011.027
- Bewegung im Sinne Nietzsches oder Spittelers dem Kult des pwe_011.028
starken Lebens, der trotzigen Persönlichkeit oder gar der entfesselten Triebe pwe_011.029
frönte, so vermochte diese Überkompensation die fortschreitende Auflösung pwe_011.030
der menschlichen Person und allgemein ein pessimistisches Grundgefühl pwe_011.031
nicht zu verbergen. In den Explosionen des Expressionismus, der im pwe_011.032
ersten Weltkrieg seine äußere Bestätigung findet, ist beides: die Berufung pwe_011.033
auf die Ursprünglichkeit einer rational nicht mehr kontrollierbaren dichterischen pwe_011.034
Aussage wie auch der Aufweis einer in alle Elemente chaotisch pwe_011.035
zerstobenen Welt, in beidem die Rücknahme auf die dichterische Existenz pwe_011.036
als alleinige Wirklichkeit. Die großen dichterischen Werke der Zeit sind zu pwe_011.037
einem guten Teil Darstellungen von Untergängen, Höllenfahrten ins Reich

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Eva Siebels, Sprache und Dichtung im physiognomischen Weltbild Rudolf pwe_011.039
Kassners.
DV 19 (1941) 218 ff. - Theodor Wieser, Die Einbildungskraft bei pwe_011.040
Rudolf Kassner. Studie mit Abriß von Leben und Werk.
Diss. (Zürich) Lausanne pwe_011.041
1949.

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ein neuer, positiver Sinn abgewonnen; nicht zuletzt sind es Soziologie und pwe_011.002
Psychologie, die mannigfache Brücken schlagen. Wenn seit Lebensphilosophie, pwe_011.003
Phänomenologie und Existenzphilosophie der Glaube an den großen pwe_011.004
Systembau in Philosophie und Geisteswissenschaft Schiffbruch litt, so ergeben pwe_011.005
sich doch neue Möglichkeiten, wenn nicht des logisch-systematischen pwe_011.006
Denkens, so doch des Sehens und Beschreibens, und es kann an Stelle kausaler pwe_011.007
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  Wie steht in diesen revolutionären Wandlungen des Menschenbildes und des pwe_011.012
menschlichen Lebens die Dichtung selbst? Sie ist ja nicht nur Illustration pwe_011.013
und Beleg zur Geistes- und Philosophiegeschichte, sondern zeigt in ihren Stilwandlungen pwe_011.014
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klassische, idealistische Stil, der noch die Dichtung der großen Realisten des pwe_011.016
19. Jahrhunderts, ihre „Grundtrauer“ und ihr innerstes Bedrohtsein überglänzt, pwe_011.017
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Worte. Dem forcierten Sich-Versichern der Wirklichkeit, das der Dichtung pwe_011.019
immerhin noch ein gewisses soziales Pathos läßt, folgt in den dekadenten, pwe_011.020
impressionistischen oder neuromantischen Bewegungen zunächst ein Rückzug pwe_011.021
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– Bewegung im Sinne Nietzsches oder Spittelers dem Kult des pwe_011.028
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Kassners.
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[11/0017] pwe_011.001 ein neuer, positiver Sinn abgewonnen; nicht zuletzt sind es Soziologie und pwe_011.002 Psychologie, die mannigfache Brücken schlagen. Wenn seit Lebensphilosophie, pwe_011.003 Phänomenologie und Existenzphilosophie der Glaube an den großen pwe_011.004 Systembau in Philosophie und Geisteswissenschaft Schiffbruch litt, so ergeben pwe_011.005 sich doch neue Möglichkeiten, wenn nicht des logisch-systematischen pwe_011.006 Denkens, so doch des Sehens und Beschreibens, und es kann an Stelle kausaler pwe_011.007 Ergründung der menschlichen Lebens- und Kulturerscheinungen ein pwe_011.008 physiognomisches Erkennen treten, wenn etwa bei Rudolf Kassner die pwe_011.009 Lehre von der Einbildungskraft zum Schlüssel einer umfassenden Erkenntnisweise pwe_011.010 eigener Art entwickelt wird 1. pwe_011.011   Wie steht in diesen revolutionären Wandlungen des Menschenbildes und des pwe_011.012 menschlichen Lebens die Dichtung selbst? Sie ist ja nicht nur Illustration pwe_011.013 und Beleg zur Geistes- und Philosophiegeschichte, sondern zeigt in ihren Stilwandlungen pwe_011.014 mindestens gleich ursprünglich die Veränderungen an. Daß der pwe_011.015 klassische, idealistische Stil, der noch die Dichtung der großen Realisten des pwe_011.016 19. Jahrhunderts, ihre „Grundtrauer“ und ihr innerstes Bedrohtsein überglänzt, pwe_011.017 sich im naturalistischen Dichten tumultuarisch auflöst, bedarf keiner pwe_011.018 Worte. Dem forcierten Sich-Versichern der Wirklichkeit, das der Dichtung pwe_011.019 immerhin noch ein gewisses soziales Pathos läßt, folgt in den dekadenten, pwe_011.020 impressionistischen oder neuromantischen Bewegungen zunächst ein Rückzug pwe_011.021 der Dichtung vom Leben. Sie ist mißtrauisch geworden gegen die pwe_011.022 Kraft des Wortes und kann nur noch hoffen, sich selbst wie die entgleitende pwe_011.023 Welt wenigstens im schwebenden Hinhören auf die Empfindungen pwe_011.024 und Gefühle zu wahren und durch diese Rücknahme der Front wenigstens pwe_011.025 das Wort reinzuhalten und ihm die Möglichkeit einer Wiedergeburt von pwe_011.026 innen zu sichern. Wenn demgegenüber eine – künstlerisch nicht allzufruchtbare pwe_011.027 – Bewegung im Sinne Nietzsches oder Spittelers dem Kult des pwe_011.028 starken Lebens, der trotzigen Persönlichkeit oder gar der entfesselten Triebe pwe_011.029 frönte, so vermochte diese Überkompensation die fortschreitende Auflösung pwe_011.030 der menschlichen Person und allgemein ein pessimistisches Grundgefühl pwe_011.031 nicht zu verbergen. In den Explosionen des Expressionismus, der im pwe_011.032 ersten Weltkrieg seine äußere Bestätigung findet, ist beides: die Berufung pwe_011.033 auf die Ursprünglichkeit einer rational nicht mehr kontrollierbaren dichterischen pwe_011.034 Aussage wie auch der Aufweis einer in alle Elemente chaotisch pwe_011.035 zerstobenen Welt, in beidem die Rücknahme auf die dichterische Existenz pwe_011.036 als alleinige Wirklichkeit. Die großen dichterischen Werke der Zeit sind zu pwe_011.037 einem guten Teil Darstellungen von Untergängen, Höllenfahrten ins Reich 1 pwe_011.038 Eva Siebels, Sprache und Dichtung im physiognomischen Weltbild Rudolf pwe_011.039 Kassners. DV 19 (1941) 218 ff. – Theodor Wieser, Die Einbildungskraft bei pwe_011.040 Rudolf Kassner. Studie mit Abriß von Leben und Werk. Diss. (Zürich) Lausanne pwe_011.041 1949.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/17>, abgerufen am 24.11.2024.