Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_126.001 Von hier aus ist auch ein Blick auf die Kulturphilosophie Huizingas1 pwe_126.002 Wenn solche Betrachtungen trotz allem wesentlich zu den archaischen pwe_126.019 1 pwe_126.039
J. Huizinga, Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der pwe_126.040 Kultur. Amsterdam 1939. pwe_126.001 Von hier aus ist auch ein Blick auf die Kulturphilosophie Huizingas1 pwe_126.002 Wenn solche Betrachtungen trotz allem wesentlich zu den archaischen pwe_126.019 1 pwe_126.039
J. Huizinga, Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der pwe_126.040 Kultur. Amsterdam 1939. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0132" n="126"/> <lb n="pwe_126.001"/> <p> Von hier aus ist auch ein Blick auf die Kulturphilosophie <hi rendition="#k">Huizingas</hi><note xml:id="PWE_126_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_126.039"/> J. Huizinga, <hi rendition="#i">Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der <lb n="pwe_126.040"/> Kultur.</hi> Amsterdam 1939.</note> <lb n="pwe_126.002"/> und seines <hi rendition="#i">Homo ludens</hi> zu werfen. Auch hier wird die Dichtung in ihrer <lb n="pwe_126.003"/> vitalen Funktion innerhalb der sozialen Gesamtkultur verstanden, wird <lb n="pwe_126.004"/> die Auffassung abgelehnt, „Dichtkunst habe nur eine ästhetische Funktion <lb n="pwe_126.005"/> oder wäre allein von ästhetischen Grundlagen her zu erklären und zu <lb n="pwe_126.006"/> verstehen“. Der Schlüsselbegriff zum Verständnis der verschiedensten Kulturerscheinungen, <lb n="pwe_126.007"/> ja der Wurzel der Kultur selbst heißt hier „Spiel“, spielerisches <lb n="pwe_126.008"/> Handeln als freies, der Realität gegenübertretendes und sie überhöhendes <lb n="pwe_126.009"/> Handeln. Dieser Spielcharakter aber tritt in der Poesie ganz besonders <lb n="pwe_126.010"/> zutage, um so mehr, als diese selbst in archaischen Kulturen unlöslich <lb n="pwe_126.011"/> im gesamten kulturellen Spiele lebt: „im heiligen Spiel der Gottesverehrung, <lb n="pwe_126.012"/> im festlichen Spiel der Werbung, im streitbaren Spiel des <lb n="pwe_126.013"/> Wetteifers mit Prahlen, Schimpf und Spott, im Spiel des Scharfsinns und <lb n="pwe_126.014"/> der Fertigkeit.“ Und <hi rendition="#k">Huizinga</hi> belegt das Spielmäßige der ursprünglichen <lb n="pwe_126.015"/> Dichtung mit Beispielen von den Indonesiern und der Edda bis zu Paul <lb n="pwe_126.016"/> Valéry, um die Gültigkeit dieser Deutung bis in die Gegenwart hinein zu <lb n="pwe_126.017"/> zeigen.</p> <lb n="pwe_126.018"/> <p> Wenn solche Betrachtungen trotz allem wesentlich zu den archaischen <lb n="pwe_126.019"/> Urformen des psychischen und sozialen Verhaltens zurücklenken, so tritt <lb n="pwe_126.020"/> dem Literarhistoriker die <hi rendition="#g">soziale Bindung</hi> des Kunstwerks in der <lb n="pwe_126.021"/> neueren Literatur in spezielleren, geschichtlich individuellen Formen entgegen. <lb n="pwe_126.022"/> Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Minnesang nicht ohne die <lb n="pwe_126.023"/> zugehörige feudale Rittergesellschaft des Hochmittelalters (als Träger und <lb n="pwe_126.024"/> vielleicht auch wieder z. T. Produkt dieser Dichtung) gegeben ist, daß Gottfried <lb n="pwe_126.025"/> Keller nicht ohne das Bürgertum des schweizerischen Liberalismus, <lb n="pwe_126.026"/> der höfische Barockroman nicht ohne die soziale und politische Erscheinung <lb n="pwe_126.027"/> des Absolutismus gesehen werden kann. Je größer die Distanz des modernen <lb n="pwe_126.028"/> Betrachters zu der vergangenen literarischen Welt, um so eher wird <lb n="pwe_126.029"/> diese bestimmte gesellschaftliche Bindung ins Auge fallen. So wird etwa die <lb n="pwe_126.030"/> deutsche Klassik in steigendem Maß – seit <hi rendition="#k">Thomas Manns</hi> Goethe-Aufsätzen, <lb n="pwe_126.031"/> seit <hi rendition="#k">Herbert Cysarz</hi>' Schillerbuch, seit den marxistischen Werken <lb n="pwe_126.032"/> von <hi rendition="#k">Georg Lukacs</hi> – als Repräsentantin des „bürgerlichen Zeitalters“ erfahren, <lb n="pwe_126.033"/> ohne daß damit eine Einschränkung oder Herabsetzung ihres Wertes <lb n="pwe_126.034"/> verbunden sein muß. Es läßt sich wohl sagen, daß im angelsächsischen Bereich <lb n="pwe_126.035"/> seit <hi rendition="#k">Kuno Francke,</hi> seit <hi rendition="#k">Courthope</hi> und andern der Blick unbefangener <lb n="pwe_126.036"/> auf gesellschaftliche Determinanten und den „social background“ <lb n="pwe_126.037"/> der Literatur gerichtet worden ist, als dies bei der idealistisch bestimmten <lb n="pwe_126.038"/> offiziellen deutschen Literaturwissenschaft der Fall war. Man vergleiche </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0132]
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Von hier aus ist auch ein Blick auf die Kulturphilosophie Huizingas 1 pwe_126.002
und seines Homo ludens zu werfen. Auch hier wird die Dichtung in ihrer pwe_126.003
vitalen Funktion innerhalb der sozialen Gesamtkultur verstanden, wird pwe_126.004
die Auffassung abgelehnt, „Dichtkunst habe nur eine ästhetische Funktion pwe_126.005
oder wäre allein von ästhetischen Grundlagen her zu erklären und zu pwe_126.006
verstehen“. Der Schlüsselbegriff zum Verständnis der verschiedensten Kulturerscheinungen, pwe_126.007
ja der Wurzel der Kultur selbst heißt hier „Spiel“, spielerisches pwe_126.008
Handeln als freies, der Realität gegenübertretendes und sie überhöhendes pwe_126.009
Handeln. Dieser Spielcharakter aber tritt in der Poesie ganz besonders pwe_126.010
zutage, um so mehr, als diese selbst in archaischen Kulturen unlöslich pwe_126.011
im gesamten kulturellen Spiele lebt: „im heiligen Spiel der Gottesverehrung, pwe_126.012
im festlichen Spiel der Werbung, im streitbaren Spiel des pwe_126.013
Wetteifers mit Prahlen, Schimpf und Spott, im Spiel des Scharfsinns und pwe_126.014
der Fertigkeit.“ Und Huizinga belegt das Spielmäßige der ursprünglichen pwe_126.015
Dichtung mit Beispielen von den Indonesiern und der Edda bis zu Paul pwe_126.016
Valéry, um die Gültigkeit dieser Deutung bis in die Gegenwart hinein zu pwe_126.017
zeigen.
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Wenn solche Betrachtungen trotz allem wesentlich zu den archaischen pwe_126.019
Urformen des psychischen und sozialen Verhaltens zurücklenken, so tritt pwe_126.020
dem Literarhistoriker die soziale Bindung des Kunstwerks in der pwe_126.021
neueren Literatur in spezielleren, geschichtlich individuellen Formen entgegen. pwe_126.022
Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Minnesang nicht ohne die pwe_126.023
zugehörige feudale Rittergesellschaft des Hochmittelalters (als Träger und pwe_126.024
vielleicht auch wieder z. T. Produkt dieser Dichtung) gegeben ist, daß Gottfried pwe_126.025
Keller nicht ohne das Bürgertum des schweizerischen Liberalismus, pwe_126.026
der höfische Barockroman nicht ohne die soziale und politische Erscheinung pwe_126.027
des Absolutismus gesehen werden kann. Je größer die Distanz des modernen pwe_126.028
Betrachters zu der vergangenen literarischen Welt, um so eher wird pwe_126.029
diese bestimmte gesellschaftliche Bindung ins Auge fallen. So wird etwa die pwe_126.030
deutsche Klassik in steigendem Maß – seit Thomas Manns Goethe-Aufsätzen, pwe_126.031
seit Herbert Cysarz' Schillerbuch, seit den marxistischen Werken pwe_126.032
von Georg Lukacs – als Repräsentantin des „bürgerlichen Zeitalters“ erfahren, pwe_126.033
ohne daß damit eine Einschränkung oder Herabsetzung ihres Wertes pwe_126.034
verbunden sein muß. Es läßt sich wohl sagen, daß im angelsächsischen Bereich pwe_126.035
seit Kuno Francke, seit Courthope und andern der Blick unbefangener pwe_126.036
auf gesellschaftliche Determinanten und den „social background“ pwe_126.037
der Literatur gerichtet worden ist, als dies bei der idealistisch bestimmten pwe_126.038
offiziellen deutschen Literaturwissenschaft der Fall war. Man vergleiche
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Kultur. Amsterdam 1939.
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