Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_119.001 pwe_119.023 2. psychologische erschliessung des werks pwe_119.024Die moderne Tiefenpsychologie gehört zu den Mächten, die auf pwe_119.025 1 pwe_119.038
Walter Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Berlin 1930. pwe_119.001 pwe_119.023 2. psychologische erschliessung des werks pwe_119.024Die moderne Tiefenpsychologie gehört zu den Mächten, die auf pwe_119.025 1 pwe_119.038
Walter Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Berlin 1930. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0125" n="119"/><lb n="pwe_119.001"/> der Sänger, worauf dann in den andern Kapiteln die geschichtliche <lb n="pwe_119.002"/> Entfaltung (oder richtiger Verhüllung), der Märtyrergang des Dichters in <lb n="pwe_119.003"/> Armut, Verbannung, Leiden, Entsagung, Schuld eben als „tragische Literaturgeschichte“ <lb n="pwe_119.004"/> gezeigt wird, bis zum Nachweis der völligen Vergeblichkeit <lb n="pwe_119.005"/> und Vergänglichkeit der geschaffenen Werke selbst und der Eitelkeit des <lb n="pwe_119.006"/> Ruhms. Ob allerdings im strengen Sinne von Tragik gesprochen werden <lb n="pwe_119.007"/> kann, bleibe dahingestellt; es geht um eine Häufung allen Elends, Versagens <lb n="pwe_119.008"/> und Verkommens um das unbegreifliche Geheimnis des Schöpfertums <lb n="pwe_119.009"/> herum, und als tragisch erscheint sowohl ein Villon – Vagabund und <lb n="pwe_119.010"/> Verbrecher – wie ein Goethe, dieser, weil er vergeblich oder fälschlich versucht, <lb n="pwe_119.011"/> der Tragik des Dichtertums die Spitze abzubrechen. Auch wenn damit <lb n="pwe_119.012"/> trotz dem Falle Goethe die Existenz des Dichters gezeichnet ist, gehört <lb n="pwe_119.013"/> das Verständnis des Werks als solchen wohl auf eine andere Ebene. <lb n="pwe_119.014"/> Ja, man hat stellenweise den Verdacht, die angeführten Merkmale gälten <lb n="pwe_119.015"/> nicht in besonderer Weise für die dichterische, sondern vielleicht für jede <lb n="pwe_119.016"/> tragische Menschenexistenz. Auch im rein Persönlichen ist kaum mehr eine <lb n="pwe_119.017"/> Biographie als Geschichte möglich, so wenig wie im allgemeinen eine Literaturgeschichte: <lb n="pwe_119.018"/> die geschichtlichen Dimensionen und Ordnungen werden <lb n="pwe_119.019"/> gleichsam zusammengeklappt auf die eine Ebene der vorgeschichtlichen Anarchie, <lb n="pwe_119.020"/> die als das Ursprüngliche und Schöpferische schlechthin erscheint. Es <lb n="pwe_119.021"/> ist klar, daß sich denn auch wieder die „Literatur“ als das durchaus Un- <lb n="pwe_119.022"/> und Widerdichterische darstellt – obwohl das Wort im Titel steht.</p> </div> <div n="2"> <lb n="pwe_119.023"/> <head> <hi rendition="#c">2. <hi rendition="#k">psychologische erschliessung des werks</hi></hi> </head> <lb n="pwe_119.024"/> <p>Die moderne <hi rendition="#g">Tiefenpsychologie</hi> gehört zu den Mächten, die auf <lb n="pwe_119.025"/> entscheidende Weise das Bild vom Menschen gewandelt haben. Sie hat <lb n="pwe_119.026"/> wesentlich mitgewirkt, auch im künstlerischen Bereich den Bann einer <lb n="pwe_119.027"/> bloß dem Bewußt-Persönlichen, Privat-Erlebnismäßigen zugewandten, <lb n="pwe_119.028"/> letztlich idealistischen Betrachtungsweise zu sprengen, auch dort, wo diese <lb n="pwe_119.029"/> Einwirkung der Psychologie nur auf dem Umweg über die allgemein modernen <lb n="pwe_119.030"/> Vorstellungskategorien erfolgt ist. <hi rendition="#k">Walter Muschg</hi><note xml:id="PWE_119_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_119.038"/> Walter Muschg, <hi rendition="#i">Psychoanalyse und Literaturwissenschaft.</hi> Berlin 1930.</note> hat seinerzeit <lb n="pwe_119.031"/> die „radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene“ begrüßt <lb n="pwe_119.032"/> gegenüber einer ahnungslosen „Tradition der heroischen Idealisierung <lb n="pwe_119.033"/> des Dichters wie der erdichteten Gestalt“. Schon damit zeigt sich eine <lb n="pwe_119.034"/> Tendenz, die Inzucht literaturwissenschaftlicher Begriffsbildung zugunsten <lb n="pwe_119.035"/> größerer Zusammenhänge aufzugeben. Eine seit jeher im Hausgebrauch der <lb n="pwe_119.036"/> Literarhistoriker praktizierte Allerweltspsychologie wird fragwürdig angesichts <lb n="pwe_119.037"/> der neuen von der philosophischen <hi rendition="#g">Anthropologie</hi> (<hi rendition="#k">Sche- </hi></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [119/0125]
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der Sänger, worauf dann in den andern Kapiteln die geschichtliche pwe_119.002
Entfaltung (oder richtiger Verhüllung), der Märtyrergang des Dichters in pwe_119.003
Armut, Verbannung, Leiden, Entsagung, Schuld eben als „tragische Literaturgeschichte“ pwe_119.004
gezeigt wird, bis zum Nachweis der völligen Vergeblichkeit pwe_119.005
und Vergänglichkeit der geschaffenen Werke selbst und der Eitelkeit des pwe_119.006
Ruhms. Ob allerdings im strengen Sinne von Tragik gesprochen werden pwe_119.007
kann, bleibe dahingestellt; es geht um eine Häufung allen Elends, Versagens pwe_119.008
und Verkommens um das unbegreifliche Geheimnis des Schöpfertums pwe_119.009
herum, und als tragisch erscheint sowohl ein Villon – Vagabund und pwe_119.010
Verbrecher – wie ein Goethe, dieser, weil er vergeblich oder fälschlich versucht, pwe_119.011
der Tragik des Dichtertums die Spitze abzubrechen. Auch wenn damit pwe_119.012
trotz dem Falle Goethe die Existenz des Dichters gezeichnet ist, gehört pwe_119.013
das Verständnis des Werks als solchen wohl auf eine andere Ebene. pwe_119.014
Ja, man hat stellenweise den Verdacht, die angeführten Merkmale gälten pwe_119.015
nicht in besonderer Weise für die dichterische, sondern vielleicht für jede pwe_119.016
tragische Menschenexistenz. Auch im rein Persönlichen ist kaum mehr eine pwe_119.017
Biographie als Geschichte möglich, so wenig wie im allgemeinen eine Literaturgeschichte: pwe_119.018
die geschichtlichen Dimensionen und Ordnungen werden pwe_119.019
gleichsam zusammengeklappt auf die eine Ebene der vorgeschichtlichen Anarchie, pwe_119.020
die als das Ursprüngliche und Schöpferische schlechthin erscheint. Es pwe_119.021
ist klar, daß sich denn auch wieder die „Literatur“ als das durchaus Un- pwe_119.022
und Widerdichterische darstellt – obwohl das Wort im Titel steht.
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2. psychologische erschliessung des werks pwe_119.024
Die moderne Tiefenpsychologie gehört zu den Mächten, die auf pwe_119.025
entscheidende Weise das Bild vom Menschen gewandelt haben. Sie hat pwe_119.026
wesentlich mitgewirkt, auch im künstlerischen Bereich den Bann einer pwe_119.027
bloß dem Bewußt-Persönlichen, Privat-Erlebnismäßigen zugewandten, pwe_119.028
letztlich idealistischen Betrachtungsweise zu sprengen, auch dort, wo diese pwe_119.029
Einwirkung der Psychologie nur auf dem Umweg über die allgemein modernen pwe_119.030
Vorstellungskategorien erfolgt ist. Walter Muschg 1 hat seinerzeit pwe_119.031
die „radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene“ begrüßt pwe_119.032
gegenüber einer ahnungslosen „Tradition der heroischen Idealisierung pwe_119.033
des Dichters wie der erdichteten Gestalt“. Schon damit zeigt sich eine pwe_119.034
Tendenz, die Inzucht literaturwissenschaftlicher Begriffsbildung zugunsten pwe_119.035
größerer Zusammenhänge aufzugeben. Eine seit jeher im Hausgebrauch der pwe_119.036
Literarhistoriker praktizierte Allerweltspsychologie wird fragwürdig angesichts pwe_119.037
der neuen von der philosophischen Anthropologie (Sche-
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Walter Muschg, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Berlin 1930.
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