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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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Diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen gegenüber kann man nur auf pwe_116.002
das noch immer rätselhafte und höchstens phänomenologisch beschreibbare pwe_116.003
Verhältnis von Werk und Mensch selber verweisen: das Einzelwerk ist pwe_116.004
immer Menschenwerk, d. h. kein Ding, sondern Zeichen, es transzendiert pwe_116.005
sich selbst und ist damit unlösbar eingebettet u. a. auch in einen persönlichen pwe_116.006
und persongeschichtlichen Zusammenhang; es gibt den Personalstil pwe_116.007
und die dichterische Persönlichkeit als legitimen, ja notwendigen pwe_116.008
Forschungsgegenstand. Anderseits ist aber der Dichter als Persönlichkeit pwe_116.009
nicht mit seiner "dichterischen Persönlichkeit" identisch, so pwe_116.010
wahr er nicht nur Dichter, sondern auch sittlicher, physischer, religiöser usw. pwe_116.011
Mensch ist, was sich durchaus nicht alles ohne weiteres zu decken braucht. pwe_116.012
Die Gesamtpersönlichkeit und ihr Schicksal kann das Werk umgreifen und pwe_116.013
überschatten oder sie kann hinter dem Werk zurückbleiben oder neben ihm pwe_116.014
ihr eigenes Leben haben.

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Es ist sicher kaum mehr möglich, in strengem Sinn das Werk aus Seelenkräften pwe_116.016
und Ideen abzuleiten, und auch das Unterfangen, eine Dichterbiographie pwe_116.017
im Sinne des herkömmlichen Wechselspiels von Leben und Werk pwe_116.018
zu schreiben, ist, mit Horst Oppel, fragwürdig geworden. Aber dennoch pwe_116.019
bleibt das Interesse für das Leben des Dichters an sich legitim und ebenso pwe_116.020
die Dichterbiographie als Gattung. Und zwar nicht nur im Sinne pwe_116.021
einer strengen Stilbiographie, etwa in der Art der Monographien der George- pwe_116.022
Schule, die das Leben nur vom Werk aus, den Dichter, nur soweit er Dichter pwe_116.023
ist, in den Blick fassen wollen. Sondern auch als chronologische Beschreibung pwe_116.024
eines persönlichen Lebens in der Vielfalt seiner dichterischen und pwe_116.025
außerdichterischen Aspekte. Wer wollte sich in verkrampfter l'art pour pwe_116.026
l'art-Gesinnung Scheuklappen anlegen, wenn etwa bei einem bisher dem pwe_116.027
Werke nach gut und dem Leben nach nur ungenau bekannten Dichter wie pwe_116.028
Johann Christian Günther die biographisch-historische Forschung eine pwe_116.029
Menge neues Material entdeckt und die Lebensgeschichte nun in allen Einzelheiten pwe_116.030
vorlegt? Auch wenn Wilhelm Krämers1 Biographie in Stil und pwe_116.031
Deutung noch nüchterner, sachlicher sein könnte, so gibt es doch zu denken, pwe_116.032
wenn er sagt: "Man gewinnt die oft belächelte Anschauung Rankes wieder, pwe_116.033
daß es möglich und geboten sei, etwas festzustellen, ,wie es gewesen ist'".

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Daß die Dichterbiographie als Biographie die Grenzen der Literaturwissenschaft pwe_116.035
nach der allgemeinen Historie, nach der Ethik, nach der Psychologie pwe_116.036
überschreitet und in ihr der Dichter wie irgend ein anderer vir illustris Gegenstand pwe_116.037
der Beschreibung wird, das ist kein Schade. Die Biographie hat ihr

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Wilhelm Krämer, Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther pwe_116.039
1695-1723. o. O. (Godesberg) 1950.
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  Diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen gegenüber kann man nur auf pwe_116.002
das noch immer rätselhafte und höchstens phänomenologisch beschreibbare pwe_116.003
Verhältnis von Werk und Mensch selber verweisen: das Einzelwerk ist pwe_116.004
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überschatten oder sie kann hinter dem Werk zurückbleiben oder neben ihm pwe_116.014
ihr eigenes Leben haben.

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und Ideen abzuleiten, und auch das Unterfangen, eine Dichterbiographie pwe_116.017
im Sinne des herkömmlichen Wechselspiels von Leben und Werk pwe_116.018
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Menge neues Material entdeckt und die Lebensgeschichte nun in allen Einzelheiten pwe_116.030
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Deutung noch nüchterner, sachlicher sein könnte, so gibt es doch zu denken, pwe_116.032
wenn er sagt: „Man gewinnt die oft belächelte Anschauung Rankes wieder, pwe_116.033
daß es möglich und geboten sei, etwas festzustellen, ,wie es gewesen ist‘“.

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  Daß die Dichterbiographie als Biographie die Grenzen der Literaturwissenschaft pwe_116.035
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Wilhelm Krämer, Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther pwe_116.039
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[116/0122] pwe_116.001   Diesen Schwierigkeiten und Widersprüchen gegenüber kann man nur auf pwe_116.002 das noch immer rätselhafte und höchstens phänomenologisch beschreibbare pwe_116.003 Verhältnis von Werk und Mensch selber verweisen: das Einzelwerk ist pwe_116.004 immer Menschenwerk, d. h. kein Ding, sondern Zeichen, es transzendiert pwe_116.005 sich selbst und ist damit unlösbar eingebettet u. a. auch in einen persönlichen pwe_116.006 und persongeschichtlichen Zusammenhang; es gibt den Personalstil pwe_116.007 und die dichterische Persönlichkeit als legitimen, ja notwendigen pwe_116.008 Forschungsgegenstand. Anderseits ist aber der Dichter als Persönlichkeit pwe_116.009 nicht mit seiner „dichterischen Persönlichkeit“ identisch, so pwe_116.010 wahr er nicht nur Dichter, sondern auch sittlicher, physischer, religiöser usw. pwe_116.011 Mensch ist, was sich durchaus nicht alles ohne weiteres zu decken braucht. pwe_116.012 Die Gesamtpersönlichkeit und ihr Schicksal kann das Werk umgreifen und pwe_116.013 überschatten oder sie kann hinter dem Werk zurückbleiben oder neben ihm pwe_116.014 ihr eigenes Leben haben. pwe_116.015   Es ist sicher kaum mehr möglich, in strengem Sinn das Werk aus Seelenkräften pwe_116.016 und Ideen abzuleiten, und auch das Unterfangen, eine Dichterbiographie pwe_116.017 im Sinne des herkömmlichen Wechselspiels von Leben und Werk pwe_116.018 zu schreiben, ist, mit Horst Oppel, fragwürdig geworden. Aber dennoch pwe_116.019 bleibt das Interesse für das Leben des Dichters an sich legitim und ebenso pwe_116.020 die Dichterbiographie als Gattung. Und zwar nicht nur im Sinne pwe_116.021 einer strengen Stilbiographie, etwa in der Art der Monographien der George- pwe_116.022 Schule, die das Leben nur vom Werk aus, den Dichter, nur soweit er Dichter pwe_116.023 ist, in den Blick fassen wollen. Sondern auch als chronologische Beschreibung pwe_116.024 eines persönlichen Lebens in der Vielfalt seiner dichterischen und pwe_116.025 außerdichterischen Aspekte. Wer wollte sich in verkrampfter l'art pour pwe_116.026 l'art-Gesinnung Scheuklappen anlegen, wenn etwa bei einem bisher dem pwe_116.027 Werke nach gut und dem Leben nach nur ungenau bekannten Dichter wie pwe_116.028 Johann Christian Günther die biographisch-historische Forschung eine pwe_116.029 Menge neues Material entdeckt und die Lebensgeschichte nun in allen Einzelheiten pwe_116.030 vorlegt? Auch wenn Wilhelm Krämers 1 Biographie in Stil und pwe_116.031 Deutung noch nüchterner, sachlicher sein könnte, so gibt es doch zu denken, pwe_116.032 wenn er sagt: „Man gewinnt die oft belächelte Anschauung Rankes wieder, pwe_116.033 daß es möglich und geboten sei, etwas festzustellen, ,wie es gewesen ist‘“. pwe_116.034   Daß die Dichterbiographie als Biographie die Grenzen der Literaturwissenschaft pwe_116.035 nach der allgemeinen Historie, nach der Ethik, nach der Psychologie pwe_116.036 überschreitet und in ihr der Dichter wie irgend ein anderer vir illustris Gegenstand pwe_116.037 der Beschreibung wird, das ist kein Schade. Die Biographie hat ihr 1 pwe_116.038 Wilhelm Krämer, Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther pwe_116.039 1695–1723. o. O. (Godesberg) 1950.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/122>, abgerufen am 25.11.2024.