Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903].

Bild:
<< vorherige Seite
Alwa. Willst Du denn Deine Pilgerfahrt barfuß
antreten?
Schigolch. Der erste Schritt kostet immer allerhand
Geächz und Gestöhn. Vor zwanzig Jahren was das mit
ihr um kein Haar besser; und was hat sie seitdem gelernt!
Die Kohlen müssen nur erst gehörig angefacht sein. Wenn
sie acht Tage dabei ist, halten sie keine zehn Lokomotiven
mehr hier in unserer ärmlichen Dachkammer.
Alwa. Die Schüssel läuft schon über.
Lulu. Wo soll ich denn hin mit dem Wasser?
Alwa. Gieß es zum Fenster hinaus.
Lulu (steigt auf einen Stuhl und leert die Waschschale durch die
Dachluke hinaus).
Es scheint doch, der Regen will endlich
nachlassen.
Schigolch. Du vertrödelst die Stunde, wo die
Commis vom Abendessen nach Hause gehen.
Lulu. Wollte Gott, ich läge schon irgendwo, wo
mich kein Fußtritt mehr weckt!
Alwa. Das wünschte ich mir auch. Wozu dieses
Leben noch in die Länge ziehen! Laßt uns lieber heute
Abend noch in Frieden und Eintracht zusammen ver-
hungern. Es ist ja doch die letzte Station.
Lulu. Warum gehst denn Du Faultier nicht hin
und schaffst uns was zu essen?! Du hast in Deinem
ganzen Leben noch keinen Pfennig verdient!
Alwa. Bei diesem Wetter, bei dem man keinen
Hund vor die Thüre jagt?!
Lulu. Aber mich! Ich soll Euch mit dem bißchen
Blut, das ich noch in den Gliedern habe, das Maul stopfen.
Alwa. Ich rühre keinen Happen an von dem Geld.
Schigolch. Laß sie nur gehen. Sie hat mit fünf-
zehn Jahren ihre Familie ernährt. Ich sehne mich noch
nach einem Christmaß-pudding; dann habe ich genug.
Alwa. Willſt Du denn Deine Pilgerfahrt barfuß
antreten?
Schigolch. Der erſte Schritt koſtet immer allerhand
Geächz und Geſtöhn. Vor zwanzig Jahren was das mit
ihr um kein Haar beſſer; und was hat ſie ſeitdem gelernt!
Die Kohlen müſſen nur erſt gehörig angefacht ſein. Wenn
ſie acht Tage dabei iſt, halten ſie keine zehn Lokomotiven
mehr hier in unſerer ärmlichen Dachkammer.
Alwa. Die Schüſſel läuft ſchon über.
Lulu. Wo ſoll ich denn hin mit dem Waſſer?
Alwa. Gieß es zum Fenſter hinaus.
Lulu (ſteigt auf einen Stuhl und leert die Waſchſchale durch die
Dachluke hinaus).
Es ſcheint doch, der Regen will endlich
nachlaſſen.
Schigolch. Du vertrödelſt die Stunde, wo die
Commis vom Abendeſſen nach Hauſe gehen.
Lulu. Wollte Gott, ich läge ſchon irgendwo, wo
mich kein Fußtritt mehr weckt!
Alwa. Das wünſchte ich mir auch. Wozu dieſes
Leben noch in die Länge ziehen! Laßt uns lieber heute
Abend noch in Frieden und Eintracht zuſammen ver-
hungern. Es iſt ja doch die letzte Station.
Lulu. Warum gehſt denn Du Faultier nicht hin
und ſchaffſt uns was zu eſſen?! Du haſt in Deinem
ganzen Leben noch keinen Pfennig verdient!
Alwa. Bei dieſem Wetter, bei dem man keinen
Hund vor die Thüre jagt?!
Lulu. Aber mich! Ich ſoll Euch mit dem bißchen
Blut, das ich noch in den Gliedern habe, das Maul ſtopfen.
Alwa. Ich rühre keinen Happen an von dem Geld.
Schigolch. Laß ſie nur gehen. Sie hat mit fünf-
zehn Jahren ihre Familie ernährt. Ich ſehne mich noch
nach einem Chriſtmaß-pudding; dann habe ich genug.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0071" n="63"/>
        <sp who="#ALW">
          <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker>
          <p>Will&#x017F;t Du denn Deine Pilgerfahrt barfuß<lb/>
antreten?</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#SCH">
          <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker>
          <p>Der er&#x017F;te Schritt ko&#x017F;tet immer allerhand<lb/>
Geächz und Ge&#x017F;töhn. Vor zwanzig Jahren was das mit<lb/>
ihr um kein Haar be&#x017F;&#x017F;er; und was hat &#x017F;ie &#x017F;eitdem gelernt!<lb/>
Die Kohlen mü&#x017F;&#x017F;en nur er&#x017F;t gehörig angefacht &#x017F;ein. Wenn<lb/>
&#x017F;ie acht Tage dabei i&#x017F;t, halten &#x017F;ie keine zehn Lokomotiven<lb/>
mehr hier in un&#x017F;erer ärmlichen Dachkammer.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#ALW">
          <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker>
          <p>Die Schü&#x017F;&#x017F;el läuft &#x017F;chon über.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#LUL">
          <speaker><hi rendition="#g">Lulu</hi>.</speaker>
          <p>Wo &#x017F;oll ich denn hin mit dem Wa&#x017F;&#x017F;er?</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#ALW">
          <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker>
          <p>Gieß es zum Fen&#x017F;ter hinaus.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#LUL">
          <speaker> <hi rendition="#g">Lulu</hi> </speaker>
          <stage>(&#x017F;teigt auf einen Stuhl und leert die Wa&#x017F;ch&#x017F;chale durch die<lb/>
Dachluke hinaus).</stage>
          <p>Es &#x017F;cheint doch, der Regen will endlich<lb/>
nachla&#x017F;&#x017F;en.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#SCH">
          <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker>
          <p>Du vertrödel&#x017F;t die Stunde, wo die<lb/>
Commis vom Abende&#x017F;&#x017F;en nach Hau&#x017F;e gehen.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#LUL">
          <speaker><hi rendition="#g">Lulu</hi>.</speaker>
          <p>Wollte Gott, ich läge &#x017F;chon irgendwo, wo<lb/>
mich kein Fußtritt mehr weckt!</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#ALW">
          <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker>
          <p>Das wün&#x017F;chte ich mir auch. Wozu die&#x017F;es<lb/>
Leben noch in die Länge ziehen! Laßt uns lieber heute<lb/>
Abend noch in Frieden und Eintracht zu&#x017F;ammen ver-<lb/>
hungern. Es i&#x017F;t ja doch die letzte Station.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#LUL">
          <speaker><hi rendition="#g">Lulu</hi>.</speaker>
          <p>Warum geh&#x017F;t denn Du Faultier nicht hin<lb/>
und &#x017F;chaff&#x017F;t uns was zu e&#x017F;&#x017F;en?! Du ha&#x017F;t in Deinem<lb/>
ganzen Leben noch keinen Pfennig verdient!</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#ALW">
          <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker>
          <p>Bei die&#x017F;em Wetter, bei dem man keinen<lb/>
Hund vor die Thüre jagt?!</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#LUL">
          <speaker><hi rendition="#g">Lulu</hi>.</speaker>
          <p>Aber mich! Ich &#x017F;oll Euch mit dem bißchen<lb/>
Blut, das ich noch in den Gliedern habe, das Maul &#x017F;topfen.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#ALW">
          <speaker><hi rendition="#g">Alwa</hi>.</speaker>
          <p>Ich rühre keinen Happen an von dem Geld.</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#SCH">
          <speaker><hi rendition="#g">Schigolch</hi>.</speaker>
          <p>Laß &#x017F;ie nur gehen. Sie hat mit fünf-<lb/>
zehn Jahren ihre Familie ernährt. Ich &#x017F;ehne mich noch<lb/>
nach einem Chri&#x017F;tmaß-pudding; dann habe ich genug.</p>
        </sp><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0071] Alwa. Willſt Du denn Deine Pilgerfahrt barfuß antreten? Schigolch. Der erſte Schritt koſtet immer allerhand Geächz und Geſtöhn. Vor zwanzig Jahren was das mit ihr um kein Haar beſſer; und was hat ſie ſeitdem gelernt! Die Kohlen müſſen nur erſt gehörig angefacht ſein. Wenn ſie acht Tage dabei iſt, halten ſie keine zehn Lokomotiven mehr hier in unſerer ärmlichen Dachkammer. Alwa. Die Schüſſel läuft ſchon über. Lulu. Wo ſoll ich denn hin mit dem Waſſer? Alwa. Gieß es zum Fenſter hinaus. Lulu (ſteigt auf einen Stuhl und leert die Waſchſchale durch die Dachluke hinaus). Es ſcheint doch, der Regen will endlich nachlaſſen. Schigolch. Du vertrödelſt die Stunde, wo die Commis vom Abendeſſen nach Hauſe gehen. Lulu. Wollte Gott, ich läge ſchon irgendwo, wo mich kein Fußtritt mehr weckt! Alwa. Das wünſchte ich mir auch. Wozu dieſes Leben noch in die Länge ziehen! Laßt uns lieber heute Abend noch in Frieden und Eintracht zuſammen ver- hungern. Es iſt ja doch die letzte Station. Lulu. Warum gehſt denn Du Faultier nicht hin und ſchaffſt uns was zu eſſen?! Du haſt in Deinem ganzen Leben noch keinen Pfennig verdient! Alwa. Bei dieſem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Thüre jagt?! Lulu. Aber mich! Ich ſoll Euch mit dem bißchen Blut, das ich noch in den Gliedern habe, das Maul ſtopfen. Alwa. Ich rühre keinen Happen an von dem Geld. Schigolch. Laß ſie nur gehen. Sie hat mit fünf- zehn Jahren ihre Familie ernährt. Ich ſehne mich noch nach einem Chriſtmaß-pudding; dann habe ich genug.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Bei dieser Ausgabe handelt es sich um die erste s… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902/71
Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Berlin, [1903], S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_pandora_1902/71>, abgerufen am 24.11.2024.